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Black Box

Black Box

Titel: Black Box Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joe Hill
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hinein. Ich stolperte hierhin und dorthin, und einmal stürzte ich und begrub einen Tunnel halb unter mir.
    In einer Kiste waren die Wände mit Fotocollagen bedeckt, Bilder von Blinden: alte Leute, deren milchig weiße Augen aus ihrem Gesicht herausstarrten – Gesichter, die aussahen, als wären sie aus Holz geschnitzt; ein Schwarzer mit einer Slide-Gitarre auf den Knien und einer riesigen, runden Sonnenbrille, die er sich ganz die Nase hochgeschoben hatte; kambodschanische Kinder mit Tüchern um den Kopf. Da in diesen Karton keine Fenster geschnitten waren, wären die Collagen für jeden, der hindurchkroch, unsichtbar gewesen. In einer anderen Kiste hingen rosafarbene Fliegenpapierstreifen von der Decke, die wie staubige, an Schnüren aufgezogene Salzwassertoffees aussahen. Allerdings klebten keine Fliegen an ihnen, sondern unzählige Leuchtkäfer, die noch lebten und in kurzen Abständen gelbgrün aufleuchteten und dann wieder verblassten; damals fiel mir nicht ein, dass es eigentlich März war und Leuchtkäfer nirgends aufzufinden waren. Die Innenflächen der dritten Kiste waren in einem blassen Himmelblau angemalt, Schwärme kindlich gezeichneter schwarzer Vögel zogen darüber hinweg. In einer Ecke dieser Kiste lag etwas, das ich erst für ein Kinderspielzeug hielt, einen Haufen dunkler Federn, an dem Wollmäuse hafteten. Als ich jedoch die Kiste umstieß, fiel ein toter Vogel heraus. Der Kadaver war völlig ausgetrocknet, und seine Augen waren in den Kopf zurückgefallen, so dass die Augenhöhlen wie die Brandlöcher einer Zigarette aussahen. Fast hätte ich einen Schrei ausgestoßen. Mein Magen revoltierte, mir kam die Galle hoch.
    Da packte mich Morris am Ellenbogen und führte mich zur Treppe.
    »So wirst du ihn nicht finden«, sagte er. »Bitte, Nolan, setz dich hin.«
    Ich hockte mich auf die unterste Treppenstufe. Inzwischen musste ich mich sehr zusammennehmen, um nicht loszuheulen. Noch immer rechnete ich damit, dass Eddy irgendwo laut lachend rausspringen würde – Mann, hab ich dich reingelegt. Gleichzeitig wusste ich, dass das nie passieren würde.
    Es dauerte eine ganze Weile, bis ich bemerkte, dass Morris vor mir auf die Knie gegangen war, wie ein Mann, der seiner Angebeteten einen Hochzeitsantrag machen wollte. Er musterte mich mit festem Blick.
    »Wenn ich es jetzt noch einmal zusammenbaue, fängt die Musik vielleicht wieder an. Dann kannst du rein und nach ihm suchen«, sagte er. »Aber ich glaube nicht, dass du da wieder rauskommst. Die Türen da drin gehen nur in eine Richtung auf. Hast du das verstanden, Nolan? Die Festung ist innen größer, als sie von außen aussieht.« Er glotzte mich mit seinen sonderbar hellen, tellergroßen Augen an und sagte dann in ruhigem, aber bestimmtem Ton: »Ich möchte nicht, dass du da reingehst, aber ich baue es wieder zusammen, wenn du das wirklich willst.«
    Fassungslos starrte ich ihn an. Er hielt meinem Blick stand und wartete, den Kopf neugierig zur Seite geneigt, als würde er wie eine Meise auf einem Ast hocken und dem Geräusch fallender Regentropfen auf den Blättern lauschen. Ich stellte mir vor, wie er sorgfältig wieder zusammensetzen würde, was er in den letzten zehn Minuten auseinandergenommen hatte – und fast konnte ich das Lied hören, das von irgendwoher in den Kisten ertönen würde, schrill und laut dieses Mal: UNTER! DIE ERDE! RAUS! AUS DEM REGEN! Wenn dieses Lied wieder ohne Vorwarnung ertönen würde, dann würde ich mit Sicherheit schreien – ich könnte nicht anders.
    Ich schüttelte den Kopf. Morris wandte sich ab und fuhr fort, seine Schöpfung auseinanderzunehmen.
    Ich blieb noch fast eine ganze Stunde lang unten an der Treppe sitzen und sah meinem Bruder dabei zu, wie er seine Kartonfestung abriss. Eddy kam nicht mehr zum Vorschein. Kein weiteres Geräusch drang daraus hervor. Ich hörte, wie die Hintertür aufging und meine Mutter nach Hause kam. Die Dielen über uns knarrten. Sie rief nach mir, ich solle ihr mit den Einkäufen helfen. Ich ging hinauf, schleppte Taschen und räumte Lebensmittel in den Kühlschrank. Morris kam zum Abendessen herauf und ging dann wieder hinunter. Es geht immer schneller, etwas zu zerstören, als es aufzubauen. Das trifft auf alles zu – außer auf eine Ehe. Als ich um Viertel vor acht die Kellertreppe hinunterblickte, konnte ich die Stapel ordentlich zusammengelegter Kisten sehen, jeder ungefähr einen Meter hoch, und eine weite Fläche nackten Betons. Morris stand unten an der Treppe und

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