Black Cats 01. Was kostet der Tod
gewesen, so vollkommen. Ein Engel.
Dann war sie erwachsen geworden und so rücksichtslos, so unbarmherzig. Eine Hure.
Er hatte ihr einmal die Welt zu Füßen legen wollen, und sie hätte sie angenommen. Auch wenn sie es nicht gezeigt hatte, sie hatte ihn ebenso geliebt. Und sie hatte ihn begehrt. Das lag in ihrer Natur; es hatte ihr gefallen, was sie in diesem Haus getan hatten, wenn ihre Mutter bei der Arbeit war oder geschlafen hatte.
Bis sie älter wurde und mit anderen Männern herumgehurt hatte. Sie hatte begonnen sich zu wehren, hatte ihn beschimpft, hatte so getan, als hätte sie es nicht schon immer gemocht. Und hatte ihm ins Gesicht gelacht, nur einige Tage bevor sie verschwand. Sollte sie doch in der Hölle schmoren!
»Stanley?«
Beim Klang der heiseren Stimme seiner weinerlichen Frau erstarrte er. Gott, wie er diese Stimme hasste! Wie er diese Frau hasste! Alles an diesem Ort hasste, an dem er seit elf Jahren festsaß. Wenn er nur vor ihrer Hochzeit herausgefunden hätte, wie hoch – oder besser, wie niedrig – die Versicherungssumme gewesen war, die sie nach dem Tod ihres Mannes bekommen hatte, statt sich auf Gerüchte zu verlassen. Sein Leben hätte ganz anders verlaufen können.
»Stanley, bitte … «
»Hör auf zu heulen, Weib!«, fauchte er, wirbelte herum und ging hinein. Hinter sich knallte er die Tür so kraftvoll zu, dass der Rahmen wackelte. »Hör einfach mit dem verdammten Gejammer auf und lass mich nachdenken.«
Sie stand in der Diele und trug immer noch diesen hässlichen Lumpen. Ihr Gesicht war rot und fleckig von den Tränen, die sie über ihre nichtsnutzige Tochter vergossen hatte. Und plötzlich konnte er es nicht einmal mehr ertragen, sie anzuschauen.
»Ich gehe arbeiten«, knurrte er und ging auf sein Zimmer zu.
Sie griff nach seinem Arm. »Bitte, nicht!«
Er schüttelte ihre Berührung ab und zog ihr noch mit dem Handrücken eins über die Wange. Und sie hielt die Klappe. Wie immer. »Mein Mittagessen steht in einer halben Stunde auf dem Tisch.«
Er machte sich nicht die Mühe, sich umzudrehen und nachzusehen, ob sie sich verdrückte und ihm gehorchte.
Schließlich wusste sie, was mit ihr geschah, wenn sie das nicht tat.
8
Der IT -Spezialistin Lily Fletcher drehte das, was der Sensenmann seinen Opfern angetan hatte, den Magen um. Da sie von Natur aus sehr einfühlsam war – einer der Gründe, warum man ihr gesagt hatte, dass sie es beim FBI niemals schaffen würde – , fiel es ihr seit dem Tag, an dem Brandon das erste Video entdeckt hatte, äußerst schwer, die Gesichter dieser Frauen zu vergessen. Wenn sie allein gewesen war, hatte sie für sie gebetet, hatte ihnen versprochen, für Gerechtigkeit zu sorgen, und hatte wegen ihrer Angehörigen getrauert, die mit solcher Tragik und solchem Schmerz fertig werden mussten.
Tragik und Schmerz waren etwas, das sie nachempfinden konnte. Und zwar nur zu gut.
Vielleicht konnte sie, während sie sich immer tiefer in Satan’s Playground hineingrub, um irgendeinen virtuellen Faden zu finden, der zu ihrem unbekannten Täter führen konnte, deshalb ihre Aufmerksamkeit einfach nicht von dieser bedrohlichen skelettartigen Gestalt abwenden, die sich Lovesprettyboys nannte. Der kleine Avatar, der an eine Zeichentrickfigur erinnerte, strahlte eine solche Niedertracht aus, als sei sein Äußeres aus Hass und Lasterhaftigkeit geformt worden.
Er war in ihre Gedankenwelt eingedrungen und hatte ihr den Seelenfrieden geraubt. Er war der Brennpunkt all ihrer Wut und all ihres Kummers geworden, die sich schon so lange in ihr aufstauten. Der Sensenmann jagte ihr Angst ein. Lovesprettyboys ekelte sie an. Und sie wollte, dass sie beide verschwanden, wollte sie aus der Welt haben, weit weg, damit sie nie wieder einer anderen Frau oder einem anderen Kind wehtun würden. Niemand würde ihr je einreden können, dass dieses große, hagere Ungeheuer im wirklichen Leben keine Kinder missbraucht hatte.
Möglicherweise war Lovesprettyboys deswegen ihr Zweitprojekt geworden. Wenn sie ihn festnahm, würde das nichts an dem ändern, was ihrer eigenen Familie angetan worden war. Aber sie musste es trotzdem tun.
»Sir?«, fragte sie, als sie am späten Samstagnachmittag an Wyatt Blackstones Tür klopfte. »Kann ich kurz mit Ihnen sprechen?«
Er winkte sie herein, und ohne von seinen Papieren aufzusehen, brummte er: »Bitte, sagen Sie Wyatt zu mir.«
Es fiel ihr schwer, ihn mit seinem Vornamen anzureden. Nicht nur, weil sie es nicht gewohnt war, dass
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