Black CATS - Parrish, L: Black CATS
schon lange. »Stimmt.«
»Was stimmt?«
»Das stimmt alles.« Sie fuhr sich mit der Hand durchs Haar und war wie immer einen Moment überrascht, dass es so kurz war. »Nach der ganzen Sache mit meiner Familie habe ich versucht, wieder ein normales Leben zu führen. Aber das hat nicht so gut geklappt. Ich bin hilflos hin und her getrieben, schon damals, lange vor der Entführung, lange vor letztem Freitag, als ich dir erzählt habe, dass ich mich gerade so über Wasser halte. Dass ich am Leben bleibe, ohne wirklich zu leben.«
»Und dann musstest du nicht mal mehr versuchen, dich weiter über Wasser zu halten. Du konntest einfach absinken, untertauchen, musstest nicht mehr Teil der Welt sein.«
»Genau«, flüsterte sie.
Bis Wyatt diesen Wunsch wieder in ihr entfacht hatte, als er ihr zum Beispiel in einer heißen Sommernacht flammende Blicke von der Schwelle ihrer Schlafzimmertür aus zuwarf. Indem er sie wie eine Frau behandelte statt wie eine zerbrechliche Puppe. Indem er sie herausforderte, mit ihr stritt. Sie im Arm hielt und sie begehrte. Sie aus dem Haus zerrte und sie dazu brachte, die Wahrheit auszusprechen.
Während der letzten paar Tage war ihr klar geworden, dass sie sich veränderte. Sie hatte tatsächlich darüber nachgedacht, von hier fortzugehen. Frei zu sein. Wieder lebendig zu sein.
Und das lag an ihm.
Er weckte die Lebenslust in ihr, ob ihr das gefiel oder nicht. Und jetzt, da dieser Prozess seinen Anfang genommen hatte, ahnte sie, dass er nicht aufgeben würde, bis sie zu der Frau wurde, die er in ihr sah.
Wyatt hatte Lily zum Abendessen ausgeführt, damit sie für eine Weile ihre Sorgen vergessen konnte. Warum er also unbedingt in die Rolle des Laienpsychologen schlüpfen und versuchen musste, sie zu analysieren, war ihm selbst nicht klar. Doch nachdem er einmal damit angefangen hatte, konnte er nicht leugnen, dass er mehr wissen wollte. Er wollte, dass sie noch mehr eingestand. Vielleicht könnte er sie davor bewahren, Tag und Nacht unaufhörlich diesen düsteren Gedanken nachzuhängen, wenn sie endlich einmal darüber redete.
Aber dazu war es nicht gekommen. Gerade hatte er sie bitten wollen, mehr von ihren Gefühlen ihrer Schwester gegenüber zu erzählen, von ihrer Vergangenheit, da tauchte ein großer Mann an ihrem Tisch auf und unterbrach ihn mit lauter Stimme. »Hey, Sie sind’s doch, oder? Sie sind der Junge aus dem Haus oben am Dead Man’s Beach , stimmt’s? Dem Mörderhaus?«
Wyatt erstarrte und stieß mit dem Rücken unsanft gegen die Stuhllehne. Lilys Augen weiteten sich vor Entsetzen, und der Mund stand ihr ein wenig offen, als sie nach Luft schnappte.
Verflucht. Es mochten zwar Jahre vergangen sein, aber die Kleinstädter in Neuengland vergaßen nie etwas. Er hatte es bisher vermieden, in Keating aufzukreuzen. Ganz instinktiv hatte er sich von allen Leuten ferngehalten, die ihn hätten wiedererkennen können.
»Ich habe keine Ahnung, wovon Sie reden«, erwiderte er schließlich.
»Ich kann mich noch ganz genau an die Geschichte erinnern«, fuhr der Fremde fort, ohne auf Wyatts Worte einzugehen. »Damals bin ich noch zur Schule gegangen. Hab mir jeden einzelnen Zeitungsartikel durchgelesen. Verdammt, Sie sind Ihrem Dad zum Verwechseln ähnlich. Die schwarzen Haare, die blauen Augen – so eine Kombination vergisst man nicht so schnell. Sie sind ’n ansehnlicher Kerl. Und Ihre Mutter, die war eine echte Schönheit.«
WyattschautedenMannnichteinmalan,dessenLallenseinenAlkoholpegelverriet.OffensichtlichhattederAlkoholdemFremdenjedeHemmunggeraubt.GanzzuschweigenvonseinemgesundenMenschenverstand – erredeteweiterfröhlichdrauflos,ohneaufWyattsfinsterenGesichtsausdruckzuachten.
»Damals war das den ganzen Sommer über Gesprächsthema Nummer eins in der Stadt. Eine Tragödie.«
»Sie irren sich«, presste Wyatt mühevoll zwischen den Zähnen hervor.
»Nein, nein, ich kann mich daran erinnern, als wäre es gestern gewesen!«
Wyatts ganzer Körper war angespannt, auch wenn sein Verstand ihn davor warnte, irgendetwas zu tun, was er hinterher bedauern würde. Einen dummen Säufer niederzuschlagen, der von Dingen redete, die ihn nichts angingen – das würde er auf jeden Fall
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