Black Dagger 11 - Blutlinien
doch nachdem sie eine Weile eingeweicht worden waren, wurden sie weich genug für ihre Zwecke.
Sie erwischte eine und zog mit der anderen Hand einen Zahnstocher aus einer kleinen weißen Schachtel, auf der in roter englischer Schrift stand: SIMMON’S ZAHNSTOCHER, 500 STÜCK.
Sie spießte die Erbse auf den Zahnstocher auf und bohrte dann einen weiteren Stocher seitlich so in die Erbse, dass sich ein rechter Winkel ergab. Daraufhin fischte sie eine weitere grüne Frucht aus dem Wasser, steckte sie auf das freie Ende des einen Zahnstochers und so weiter, bis sie zunächst ein Quadrat erhielt und dann einen Würfel. Zufrieden beugte
sie sich nach vorn und setzte ihren neuen filigranen Erbsen-Zahnstocher-Bauklotz als Abschlussstein in die letzte Ecke eines vierseitigen Fundaments mit einer eins fünfzig Diagonale auf den Fußboden. Nun würde sie die Wände hochziehen, würde ein mehrstöckiges Gittergebäude aufbauen.
Die Zahnstocher waren alle exakt gleich, identische Holzstäbchen, und die Erbsen waren ebenfalls alle exakt gleich, rund und grün. Beides erinnerte sie an den Ort, von dem sie stammte. Gleichheit war im zeitlosen Heiligtum der Auserwählten von großer Bedeutung. Gleichheit war das Wichtigste überhaupt.
Hier auf dieser Seite glich sich nur wenig.
Zum ersten Mal hatte sie die Zahnstocher unten im Erdgeschoss nach einer Mahlzeit entdeckt, als Bruder Rhage und Bruder Butch sie beim Verlassen des Speiseraums aus einer schmalen Schachtel zogen. Ohne besonderen Grund hatte sie eines Abends einige mit nach oben in ihr Zimmer genommen. Sie hatte sich einen in den Mund gesteckt, doch der trockene, hölzerne Geschmack hatte ihr nicht zugesagt. Da sie nicht recht wusste, was sie sonst damit anfangen sollte, hatte sie die Stocher auf ihrem Nachttisch ausgebreitet und Umrisse damit gebildet.
Fritz, der Butler, war zum Staubwischen in ihr Zimmer gekommen, hatte ihre Bemühungen entdeckt und war kurze Zeit später mit einer Schüssel Erbsen zurückgekehrt, die in einer Schüssel mit lauwarmem Wasser einweichten. Er hatte ihr gezeigt, wie man daraus Figuren bastelte: Erbse zwischen zwei Zahnstochern, oder auch Zahnstocher zwischen zwei Erbsen. Man steckte sie so lange ineinander, bis man etwas Schönes, Neues in Händen hielt.
Seit ihre Entwürfe immer größer und ehrgeiziger wurden, war sie dazu übergegangen, all die Winkel und die Erhebungen im Voraus zu planen, um Fehler zu vermeiden.
Außerdem hatte sie sich angewöhnt, auf dem Fußboden zu arbeiten, um mehr Raum zur Verfügung zu haben.
Sie neigte sich zur Seite, um sich die Zeichnung anzusehen, die sie zu Beginn angefertigt hatte, und die ihr als Anleitung diente. Die nächste Schicht würde etwas kleiner werden, genau wie die darauf folgende. Dann würde sie einen Turm hinzufügen.
Farbe wäre schön, dachte sie. Aber wie sollte man sie in den Bau einbetten?
Ach, Farbe! Die Befreiung des Auges.
Auf dieser Seite zu sein, war nicht immer ganz leicht – doch was sie wirklich liebte, waren die ganzen Farben. Im Heiligtum der Auserwählten war alles weiß: vom Gras über die Bäume und die Tempel bis hin zu Speisen, Getränken und den frommen Büchern.
Schuldbewusst zog sie den Kopf ein und schielte zu ihren heiligen Texten hinüber. Sie konnte schwerlich behaupten, mit ihrer kleinen Kathedrale aus Erbsen und Zahnstochern die Jungfrau der Schrift preisen zu wollen.
Sich mit dem eigenen Ich zu befassen, gehörte nicht zu den Zielen der Auserwählten. Es war ein Sakrileg.
Und der Besuch der Directrix der Auserwählten früher am Tag hätte sie daran erinnern sollen.
Gütigste Jungfrau der Schrift, sie wollte gar nicht daran denken.
Sie stand auf, wartete, bis der Schwindel sich gelegt hatte, und trat dann an eines der Fenster. Darunter standen die Teerosen, und Cormia musterte jeden einzelnen Strauch, suchte nach neuen Knospen und abgefallenen Blütenblättern, nach frischem Laub.
Die Zeit verstrich. Sie erkannte es an der Art und Weise, wie die Pflanzen sich veränderten; ein Knospenzyklus dauerte drei bis vier Tage pro Blüte.
Noch etwas, an das sie sich gewöhnen musste. Auf der Anderen Seite gab es keine Zeit. Es gab die Rhythmen der Rituale und des Essens und Badens, aber keinen Wechsel von Tag und Nacht, kein Stundenmaß, keine Jahreszeiten. Zeit und Dasein waren so unveränderlich wie die Luft, wie das Licht, wie die Landschaft.
Auf dieser Seite hatte sie lernen müssen, dass es Minuten und Stunden gab, Tage und Wochen und Monate und
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