Black Dagger 19 - Liebesmond
sie hier den Stoff für Ersatz finden würde, aber das war kein Problem. Um zu Kräften zu kommen, ohne sich zu nähren, ging sie regelmäßig auf die Andere Seite, und dort bekam sie, was sie brauchte.
So unterschiedlich waren diese zwei Welten. Und doch waren No’Ones Stunden hier wie dort gleich: Es gab ihrer unendlich viele, und sie verbrachte sie überwiegend allein.
Nein, nicht ganz allein. Sie war auf diese Seite gekommen, um ihre Tochter ausfindig zu machen, und jetzt, da ihr das gelungen war, würde sie …
Na ja, also heute Nacht würde sie mal dieses Kleid reinigen.
Sie strich über den feinen Stoff und konnte nichts dagegen unternehmen, dass die Erinnerungen ungebeten hervorbrachen wie ein Geysir.
Sie hatte solche Kleider besessen. Dutzende. Sie hatten den Schrank in ihrem Nachtquartier gefüllt, diese zauberhaft ausgestatteten Räume mit den Fenstertüren.
Die sich als alles andere als sicher erwiesen hatten.
Als sich ihre Augen trübten, kämpfte sie gegen den Sog der Vergangenheit an. Unzählige Male hatte sie in diesem schwarzen Loch verbracht …
» Du solltest diese Robe verbrennen.«
No’One fuhr so hastig herum, dass sie beinahe das Kleid vom Werktisch gefegt hätte.
In der Tür stand ein riesenhafter Mann mit blond-schwarzem Haar. Unglaublich, er war so groß, dass er den Rahmen der breiten Schwingtür ausfüllte, aber das war nicht das eigentlich Erstaunliche.
Er schien zu leuchten.
Allerdings war auch er mit Gold behängt: Ringe und Stecker zierten seine Ohren, seine Augenbrauen, seine Lippen, seinen Hals.
No’One hechtete auf ihre Robe zu und gürtete sie sich um, während er ganz ruhig dastand.
» Besser?«, fragte er sanft.
» Wer seid Ihr?«
Ihr Herz raste derart, dass sich ihre Worte fast überschlugen. In geschlossenen Räumen bereitete ihr alles, was männlich war, Unwohlsein, und dieser Raum war sehr geschlossen, und die Erscheinung war außerordentlich männlich.
» Ich bin dein Freund.«
» Und warum habe ich dann noch nicht Eure Bekanntschaft gemacht?«
» Manch einer würde dich beglückwünschen, dass dir das bisher erspart geblieben ist«, murmelte er. » Aber du hast mich bei Tisch gesehen.«
Wahrscheinlich hatte sie das. Normalerweise hielt sie den Blick gesenkt und konzentrierte sich auf ihren Teller, doch ja, irgendwo in ihrem Umfeld war er gewesen.
» Du bist sehr schön«, bemerkte er.
Zwei Umstände hielten sie davon ab, in helle Panik zu geraten: Erstens schwang nichts Anzügliches in seiner tiefen Stimme mit, und zweitens hatte er sich mittlerweile gegen den Türstock gelehnt und ihr damit einen Fluchtweg an ihm vorbei eröffnet, sollte es nötig sein.
So als wüsste er, dass er sie nervös machte.
» Ich habe dir Zeit gelassen, dich etwas einzugewöhnen und zurechtzufinden«, murmelte er.
» Aber warum solltet Ihr das tun?«
» Weil du aus einem sehr wichtigen Grund hier bist, und ich werde dir helfen.«
Die strahlend weißen, pupillenlosen Augen blickten sie fest an, obwohl ihr Gesicht im Schatten lag … so, als würden sie ihr nicht nur in die Augen blicken, sondern tief in sie hinein.
No’One trat einen Schritt zurück. » Ihr kennt mich nicht.«
Zumindest das stand fest und gab ihr Halt: Selbst wenn diese Erscheinung ihre Eltern kannte, ihre Familie, ihre Ahnen, No’One kannte er nicht. Sie war nicht mehr die von früher. Die Entführung, die Geburt, ihr Tod hatten sie vollständig verwandelt.
Oder gebrochen, um genau zu sein.
» Ich weiß, dass du mir helfen kannst«, sagte er. » Wie klingt das?«
» Sucht Ihr eine Zimmermagd?«
Schwer vorstellbar, bei so vielen Bediensteten im Haus – aber das war gar nicht der Punkt. Sie wollte keinem männlichen Wesen auf irgendeine intime Weise dienen.
» Nein.« Jetzt lächelte er, und sie musste sich eingestehen, dass er dabei fast schon … freundlich aussah. » Weißt du, es gibt nicht nur die unterwürfige Art, zu dienen.«
Sie hob das Kinn ein wenig an. » Alle Arbeit ist ehrbar.«
Ein Sachverhalt, der ihr entgangen war, bevor sich alles gewandelt hatte. Gütige Jungfrau der Schrift, sie war ein verzogenes, eingebildetes Gör gewesen. Und dass sie diese aufgeblasene Selbstüberschätzung abgelegt hatte, war das einzig Gute an der ganzen Angelegenheit gewesen.
» Das bestreite ich nicht.« Er neigte den Kopf, als stelle er sie sich in einer anderen Umgebung vor, in einem anderen Kleid. Oder vielleicht hatte er auch nur einen steifen Hals, wer konnte das schon sagen. » Und du
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