Black Jesus
sehen?«
»Ja.«
»Gut«, lächelt Gloria. »Das macht mich glücklich.«
Sie stehen da für eine Weile. Die Brücke schaukelt ganz sanft, ausgelöst durch ihre Bewegungen und die leiseste Verlagerung ihres Gewichts. Der Bach fließt in den Hudson, und der Hudson fließt ins Meer.
»Gloria?«
»Was?«
»Ich glaube, ich höre mein Herz.«
Zehn Minuten später sitzen sie Seite an Seite am Ufer, ihre Schuhe und Socken auf den Steinen, ihre Füße in der kalten Strömung. Die Ahornsamen, die alle nur »Hubschrauber« nennen, rotieren langsam zum Wasser hinunter und tänzeln dann elegant fort. Sie sitzen da, ohne zu sprechen. Dann heult die Feuersirene zu Mittag, ihr entfernter, klagender Klang tröstlich und verlässlich. Zwölfmal heult sie, um beim letzten Ton sanft zu verhallen.
»Wir müssen sie da rausholen«, sagt Gloria.
»Wen?«
»Bea Two-Feathers.«
»So wie bei einem Gefängnisausbruch?«
»Weiß ich noch nicht.«
»Gloria?«
»Ja.«
»Ich bin dabei.«
»Ich auch.«
Venice Beach, California
VENICE BEACH, CALIFORNIA
Tracy macht ein Geräusch wie ein verletzter Delfin, ihre zusammengekniffenen Augenlider zittern, ihre Haare liegen völlig zerzaust auf dem Kissen. Sie träumt von Zuhause, von dem Trailer, in dem sie mit ihrem Vater wohnt. Die kleine Spieluhr in ihrem winzigen Schlafzimmer, mit dem verwunschenen Engel obendrauf, der sich zum lähmenden Tempo eines Weihnachtslieds dreht, wenn sie die Spieluhr aufzieht. Vielleicht sollte man Lieder nicht gefangen halten. Und Mädchen ebenso wenig. Ein warmer, stummer Wind weht vom Golf durch ein undichtes Fenster, und von nebenan hört sie den Fernseher sagen: »Sieben von zehn Amerikanern glauben an außerirdisches Leben.« Dann sagt der Fernseher: »Eine Mutter in Orlando hat ihr vierjähriges Kind in der Badewanne ertränkt, weil das Kind einem ihrer Geheimnisse auf die Spur gekommen war.« Und dann: »Eine neue Studie kommt zu dem Ergebnis, dass falsche Ernährung die Krebsrate in diesem Land erheblich beschleunigt hat. Fettsucht: Trend oder Seuche?« Daddy kann nicht schlafen. Und wenn er nicht schlafen kann, kommt er immer in mein Zimmer.
Sie wacht im Loft auf, sämtliche Ventilatoren laufen – das rastlose Summen klingt wie der Schwarm der Heuschrecken vor dem Jüngsten Gericht.
Wo ist Ross?, denkt sie und schaut auf das überdimensionale Wasserbett. Er war doch noch hier, als ich einschlief.
Sie schlägt die Decke zur Seite und stolpert barfuß in die Küche, um sich einen Schluck Wasser zu holen. Moment. Was um alles in der Welt ist das denn? Sie bleibt stehen, reibt sich ihre verschlafenen Augen und starrt fassungslos auf das bizarre Etwas vor ihr. Es erinnert vage an eine menschliche Figur – mit einem leeren Milchkanister als Kopf. Jemand hat dünne Metallgitter und geschmolzenes Plastik so zusammengesteckt und gebogen, dass sie eine Figur ergeben, ein lebendes Wesen.
»Ross?«, ruft sie und hört in ihrer Stimme einen Argwohn, der ihr bislang unbekannt war. Sie dreht sich um und geht zur Badezimmertür. Sie steht weit offen. Kein laufendes Wasser zu hören. »Ross, bist du hier?«
Keine Antwort. An der Decke surren die Ventilatoren. Die Anzeige auf der Digitaluhr am Bett ist grün – so grün wie das Mädchen, das sich auf der Suche nach dem Ruhm hierher verlaufen hat. Sie schaut sich noch einmal die Kreatur an, die über Nacht geboren wurde, versucht, die Konstruktion zu verstehen, seine gequälte Positur, seine Einzelteile.
Hmmm, das ist merkwürdig, denkt sie sich. Wo hab ich die ganzen Teile nur schon mal gesehen?
Dann kommt die Erleuchtung. Die Metallgitter und Plastikeinsätze stammen aus dem Kühlschrank. Es sind die Eingeweide des riesigen Ungetüms, das dort an der Wand vor sich hinbrummt.
Tracy macht noch einmal eine Runde durchs Loft, um ihren verschollenen Gastgeber zu finden. Dann geht sie zum Kühlschrank, macht aber, als sie an der unheiligen Skulptur vorbeikommt, einen kleinen Satz – als habe sie Angst, das Ding könne plötzlich ausholen und nach ihr greifen.
Als sie die Kühlschranktür öffnet, bläst ihr ein nebliger Schwall entgegen. Was sie dann im Inneren sieht, lässt ihr das Blut gefrieren. Ein Blitz schießt durch ihr Hirn, ihr Magen verkrampft.
»Was machst du da?«, sagte sie zitternd. »Warum sitzt du da drin, Ross?«
Und bis zu ihrem Lebensende wird sie den nackten Mann nicht vergessen, seine Stimme, seine embryonale Haltung, sein bläuliches Gesicht, das aufblickt, um mit ihr zu sprechen,
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