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Black Jesus

Black Jesus

Titel: Black Jesus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simone Felice
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zieht ein Streichholz heraus, lehnt sich aus dem Fenster, entzündet das Streichholz an der Betonwand, die auch die Wand ihres Gefängnisses ist, bringt das brennende Streichholz vorsichtig wieder durchs Fenster zurück – als sei die Operation riskanter als je in ihrem Leben zuvor – und steckt sich die extralange Zigarette zwischen ihren Lippen an.
    Nach ein paar tiefen Zügen sagt sie: »Es muss Spaß machen, eine Ballerina zu sein.«
    »Schon«, sagt Gloria, »es hat seine Höhen und Tiefen. Viel Üben. Viel Reisen. Ich mach grad eine kleine Pause, weil mein Bein verletzt ist.«
    »Sie ist die Beste«, sagt Lionel. »Glauben Sie ihr nicht, wenn sie ihr Licht unter den Scheffel stellt. Ich hab sie mit eigenen Augen tanzen sehen.«
    Gloria wirft dem Marine einen Blick zu, sagt aber nichts.
    »Ich hab früher auch getanzt«, sagt Bea. »Die ganze Nacht zu einer Big Band. Und als ich Joes Vater kennenlernte, brachte er mir den Regentanz bei. Er war ja ein Vollblut-Mohikaner. Und ich lernte den Kriegstanz. Und einen ungewöhnlichen Fruchtbarkeitstanz – obwohl er sich den wahrscheinlich ausgedacht hat, weil er mir an die Wäsche wollte. Der Trick hat dann ja wohl auch funktioniert«, sagt sie und lacht.
    »Wie war Joe denn so drauf, als er ein Kind war?«, fragt das Mädchen.
    »Nicht viel anders als andere Kinder auch. Aber er hasste es, Halb-Indianer zu sein. Ich hörte gelegentlich, wie die anderen Jungs ›Mischling‹ oder ›Geronimo‹ zu ihm sagten, und wenn er manchmal nach Hause kam, war er aufgebracht und hatte zerrissene Kleider oder einen Kratzer im Gesicht.«
    »Er gab mir seinen Tomahawk«, sagt Lionel.
    »Das kann nicht wahr sein.«
    »Doch. Er hat ihn mir geschenkt.«
    »Dann muss er dich wirklich mögen. Er war so stolz auf das alte Ding. Damals gab es ja noch kein Nintendo und kein Internet oder was immer sie sonst heute haben. Die Kinder spielten ›Räuber und Gendarm‹ und liefen den ganzen Tag durch den Wald, oder ›Killt die Kommunisten‹ oder ›Cowboys und Indianer‹ – wobei natürlich immer die Cowboys gewannen. Man muss sich nur den Marlboro-Mann anschauen.«
    »Aber dem hat es Interstate ja ordentlich gezeigt«, ruft Lionel. »Er hat ihn ruckzuck ins Jenseits befördert. Ich war damals elf und hab’s mit eigenen Augen gesehen.«
    »Nun, im Wilden Westen lief das anders. Seid ihr jemals in einem Indianer-Reservat gewesen. Es kann einem das Herz brechen.«
    »Auf dem Weg hierher bin an einem vorbeigefahren, hab aber nicht angehalten«, sagt Gloria. »Irgendwo in Oklahoma. Oder vielleicht war’s auch Michigan. Es gab dort ein großes Holzschild mit dem Namen des Reservats, aber ich hab’s vergessen. Irgendwas mit ›Nation‹. Ich erinnere mich nur noch an den riesigen Zaun. Er hörte überhaupt nicht mehr auf – stundenlang.«
    »Ein Zaun wofür?«, fragt Black Jesus.
    Bea Two-Feathers zieht an ihrer Zigarette. Dann sagt sie: »Ein Zaun, damit die Trauer nicht rauskommen kann.«
    Und dann sagt sie nichts mehr, sondern starrt aus dem offenen Fenster – verblühend, störrisch, wunderschön. Jeder Zug an der Zigarette eine Wonne, jeder Zug ihr schleichender Tod. Ein warmer Sommerwind umspielt die Zweige der Hartriegelsträucher, die sie so liebt. Ein Rotkehlchen im Gras. Der Müllcontainer auf der anderen Seite des Geländes. Ein schmaler Kondensstreifen, einer Sommerwolke täuschend ähnlich, hängt hoch oben im Himmel – die blasse Erinnerung an ein Düsenflugzeug, das inzwischen längst verschwunden ist.
    »Werden wir eine Spur zurücklassen?«, sagt Bea schließlich.
    »Ich bin mir nicht sicher, ob ich weiß, was Sie meinen«, sagt das Mädchen.
    Die Regentänzerin zeigt nach oben auf den verblassenden Streifen am Himmel. Die Stripperin steht vom Bett auf und stellt sich zu ihr ans Fenster.
    »Ich weiß es nicht, Bea. Tut mir leid. Ich wünschte, ich könnte es Ihnen sagen.«
    »Vielleicht gibt es ja eine Fährte, die die Spuren unserer Füße zeigt, wenn wir längst gegangen sind. Verstehst du, Gloria? Wie Hänsel und Gretel in dem Buch. Brotkrumen. An den Weggabelungen. Den verschiedenen Wegen, um heimzukommen.«
    »Ich weiß nicht mal, was ›heimkommen‹ überhaupt bedeutet.«
    »So ging’s mir auch«, sagt Bea. »Bis ich in diesem HEIM gelandet bin. Ist das nicht lustig?«
    Gloria lacht aus Sympathie mit und dreht den Kopf, um nach Lionel zu sehen.
    Er schläft inzwischen fest. Er liegt auf der Seite, die Arme über dem Herz gekreuzt, seine Beine angezogen zu der

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