Black Mandel
ihrem Bett und las ihr vor, Kurzgeschichten von Algernon Blackwood, weil sie sich beide gerne gruselten. Runa Hallberg bestrafte ihn nicht, wenn er schlechte Noten mit nach Hause brachte, aber sie machte sich doch Sorgen, ihn so abfallen zu sehen. Cristian fing irgendwann an, seine Schularbeiten und Zeugnisse zu fälschen, um seiner Mutter nicht noch mehr Kummer zu bereiten. Dabei entwickelte er die größtmögliche Akribie. Schularbeiten waren leicht zu fälschen, er musste sie im Prinzip nur nochmals abschreiben und dann mit Rotstift und einer gefälschten Unterschrift die neue und bessere Bewertung ergänzen. Das war aufwändig, aber machbar. Außerdem wusste er ja, dass weder sein betrunkener Vater noch seine bettlägrige Mutter an irgendeinem Elternabend teilnahmen, wo man sie mit seinen wahren Noten konfrontieren konnte. Schwieriger wurde es bei den Zeugnissen. Die Noten waren mit einer Schreibmaschine auf kleine graue Felder geschrieben. Wenn man also den Druck ausradieren wollte, beschädigte man auch das kleine graue Feld. Cristian fand eine Methode, minimale Schäden an dem grauen Kästchen durch exakt das gleiche Grau zu beheben, das er mit einem Malkasten angerührt hatte und mit einem millimeterdünnen Pinsel auftrug, bevor er das Zeugnis auf seiner eigenen Schreibmaschine korrigierte. Dabei war auch das Timing entscheidend, denn die Tage, an denen es Zwischenzeugnisse und Zeugnisse gab, waren allen Eltern bekannt. Cristian blieben also nur wenige Minuten, um sich mit einer Ausrede unmittelbar nach Zeugnisvergabe nach Hause zu schleichen, das Zeugnis zu präparieren und dann ein zweites Mal nach Hause zu kommen, um seiner Mama die geschönten Zensuren zu zeigen.«
»Ein Betrüger mit Herz«, sagte ich, und es klang spöttischer, als ich wollte.
»Ja, so in der Art«, sagte Hagelin und lächelte. »Aber das ist nicht alles.«
»Ach so?«, sagte ich und bereute schon, dass ich nach der Anekdote gefragt hatte, die ja überhaupt keine war, sondern die befürchtete biografische Ausholbewegung.
»So war Cristian zu seiner Mutter. Seinem Vater gegenüber war er laut und aufrührerisch. Dem alten Hallberg ist mehr als einmal die Hand ausgerutscht, und Cristian hat ihm dafür regelmäßig Geld gestohlen.«
»Wussten Sie, dass Cristian damals nach dem Fantoft-Brand Raske an den Staatsschutz verraten hat?«, fragte ich, weil ich jetzt genug aus der Familienchronik der Hallbergs gehört hatte.
Hagelin nickte stumm, als dürfe man das nicht laut aussprechen.
»Und er hatte keine Angst, dass Raske irgendwann davon erfährt?«
»Doch, natürlich. Mit dieser Angst leben wir bis heute. Das war auch einer der Gründe, warum ich eine Wiederbelebung von Dark Reich nicht gutgeheißen habe. Dadurch stand er wieder im Rampenlicht, und die ehemaligen Weggefährten würden wieder alte Geschichten aufwärmen, und irgendwann würde sich jemand einen Reim darauf machen, ein paar Indizien zusammenzählen, und dann säße uns Raske im Nacken. Und vielleicht ist es jetzt ja genau so gekommen.«
»Sie glauben, dass Raske etwas mit dem Verschwinden zu tun hat?«
»Ich halte mich eigentlich aus diesen Angelegenheiten raus, versuche noch nicht einmal, eine Meinung dazu zu haben, aber Raske scheint eine Gewalt zu sein, vor der sich Cristian sein Leben lang gefürchtet hat. Schon in ihrer gemeinsamen Schulzeit war es Raske, der Cristian zu Idiotien angestachelt und ihn unter Druck gesetzt hat, wenn er bei einer Unternehmung nicht mitmachen wollte.«
»Was wissen Sie über die Kindheit von Raske?«
»Nicht viel. Ich weiß nur, dass die Raskes bis 1982 in Oslo gewohnt haben. In dem Jahr, im Sommer, hat dort ein junger Mann eine Bombe in einem Schließfach am Hauptbahnhof gezündet, und mehrere Menschen sind schwer verletzt worden, darunter Raskes junge Mutter. Nach ein paar Monaten ist sie im Krankenhaus gestorben. Danach ist Raske mit seinem Vater nach Bergen gezogen. Sein Vater hat hier als Brandschutzbeauftragter bei einer Versicherung einen Job bekommen.«
»Als Brandschutzbeauftragter? Wirklich?«, fragte ich nach, weil ich es gar nicht glauben konnte.
»Raske muss ein wütender Junge gewesen sein, was vielleicht auch verständlich ist nach den Vorkommnissen in Oslo. Er hat mit Aasen und Cristian in einem Vinmonopol Wodka gestohlen, und sie haben sich so betrunken, dass man Cristian mit einer Alkoholvergiftung ins Krankenhaus eingeliefert hat. Als er danach keine weiteren Diebstähle mehr mitmachen wollte, hat ihn Raske
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