Black Mandel
damit erpresst, seine echten Zeugnisnoten zu verraten. Raske war es auch, der auf die Idee kam, von zu Hause auszureißen, um in Hessdalen zu campen und die schwebenden Lichter zu sehen.«
»Was für schwebende Lichter?«, fragte ich.
»Es gibt diese Lichtphänomene in Zentralnorwegen. Mitte der Achtziger hat es ziemlich viele UFO -Touristen dorthin verschlagen, bevor die Erscheinungen wieder weniger geworden sind. Es ist wie eine Kette blauer Lichter, die bis zu einer Stunde konstant am Himmel zu sehen sind. Es hat sich bis heute trotz einer eigenen Wissenschaftskommission nicht geklärt, was es damit auf sich hat. Raske hatte Cristian und Aasen gegenüber behauptet, es seien die Lichter von Asgard, und sie würden bald verschwinden, weil die Norweger sich so weit von ihrer Tradition entfernt haben. Alle drei sind von zu Hause abgehauen, haben Geld gestohlen und sind mit dem Zug dorthin gefahren. Die Eltern hatten schon die Polizei informiert, dann hat Cristian bei seiner Mutter angerufen.«
»Irrer Typ, der Raske«, sagte ich.
»Gott sei Dank ist er jetzt verhaftet worden«, sagte Hagelin.
»Wie ist Cristians Verhältnis zu Gunarr Aasen?«, fragte ich.
»Nicht gut«, sagte Hagelin.
»Wegen Vilde?«
»Ja. Ich kenne Gunarr Aasen nicht, aber er macht keinen unsympathischen Eindruck. Und was er geschafft hat, wie er sich erfolgreich von der Bewegung abgewandt und etwas Eigenes aufgebaut hat, das imponiert mir. Vielleicht war Cristian auch eifersüchtig, aber ausschlaggebend ist eher, dass er Vilde um jeden Preis vom Svarte Sirkel fernhalten wollte«, sagte Hagelin.
»Verständlich«, sagte ich.
»Ich habe wirklich kein gutes Gefühl«, sagte Hagelin und sah auf die Uhr. »Ich muss gleich noch mal in die Praxis. Sie haben Glück, dass Sie mich zu Hause angetroffen haben.«
»Sonst ist Ihnen nichts aufgefallen? Irgendwas, das vielleicht nicht in direktem Zusammenhang mit dem Verschwinden steht?«, fragte ich.
»Nein«, sagte Hagelin.
»Schade«, sagte ich.
»Das heißt, vielleicht doch«, sagte der Zahnarzt.
»Aha«, sagte ich.
»In der Praxis fehlte ein Bestand an Anästhetika. Aber das ist mir schon vor ein paar Wochen aufgefallen.«
»Was kann man damit machen?«, fragte ich.
»Man kann jemanden damit betäuben«, sagte der Zahnarzt.
Ich hatte ein schlechtes Gewissen wegen Vilde, und zudem war ich todmüde. Ich setzte mich in das Café der Kunsthalle, die an einem künstlichen See lag – mitten vor den schwarzen Silhouetten der Hausberge, die die Stadt von der Welt abriegelten – , und bestellte ein kleines Bier von dem letzten norwegischen Kleingeld. Es lief eine nervtötend monotone elektronische Musik, die viel zu laut war. Die Frau von der Bar hängte eine Lichterkette über den Tresen. Die beiden anderen Gäste gingen, und ich saß alleine in der lauten elektronischen Musik. Nach dem Bier wollte ich an einem Automaten Geld abheben, aber irgendetwas stimmte mit der Karte nicht. Ich war mir sicher, dreimal die richtige Geheimnummer eingetippt zu haben, aber der Automat zog die Karte ein. Schwarzfahrend nahm ich den Bus zum Fantoft-Hostel, denn es war die letzte Nacht, die wir dort gebucht hatten. Ich räumte das Zeug vom Mandel und mir in unsere Taschen und ließ mich ausgiebig von der heißen Dusche verprügeln. Völlig überhitzt legte ich mich ins Bett und dachte an die langen Beine von Vilde, bis ich einschlief.
Im Traum bin ich mit Vilde am frühen Abend in einer griechischen Taverne am Strand. Vor mir auf dem Teller ist dieses Taramas, aber eine weiße Schimmelkrone sitzt auf der rosaroten Fischcreme. Ich kann sehen, dass Vilde geweint hat, aber ich spreche sie nicht darauf an. Es ist allerdings klar, dass jemand kürzlich verstorben ist, das merkt man sofort an der Stimmung. Wie auf einer Beerdigung ist überall eine gewisse Dämpfung zu spüren. Gedämpfte Gespräche, gedämpfte Gesten, gedämpfte Blicke. Der griechische Kellner bringt mir noch einen klaren Kräuterlikör und eine Schachtel von den blauen Gauloises. Vilde schaut aufs Meer, das mit jeder Abendminute dunkelblauer wird. Wir müssen jetzt wieder zu der Gruppe, sagt Vilde, und ich nicke. Ich bin mir nicht ganz sicher, was für eine Gruppe sie meint, aber es fühlt sich nicht richtig an, hier am Strand zu zweit in der griechischen Taverne zu sitzen. Ich fühle mich beobachtet. Da kommen sie schon, sagt Vilde, und ich schaue hinunter zum Strand. Eine Gruppe von Männern in schwarzen Uniformen und schwarzen Schirmmützen
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