Black Monday
mit seinen Leuten. Sie stoßen die Leute aus dem Weg, nehmen ihn in ihre Mitte und schieben ihn auf die Berittenen zu wie Rugbyspieler, die den Spieler im Ballbesitz aufs Tor zubugsieren. Ein Irrenhaus. Der reine Wahnsinn. Eine Dritte-Welt-Hauptstadt in der Auflösung.
Gerard hat seine Brieftasche in der Hand und hält den Ausweis hoch, aber die Worte, die er ruft, werden vom Lärm verschluckt.
Vor ihm taucht ein Soldat auf einem Pferd auf. Gerard sieht sein Spiegelbild im Visier des Reiters.
Der Viehschocker kommt auf sein Gesicht zu.
Wo sind die Gerard-Kinder?, denkt Pastor Young.
Um zehn Uhr hat er es endlich geschafft, diesen unentwegt quasselnden Van Horne loszuwerden und sich ins Untergeschoss vorzuarbeiten, um die Gerard-Kinder aufzuspüren. Er wirft einen Blick in den überfüllten Quarantänesaal, sucht in der Küche, in der Kapelle, im Unterrichtsraum und sogar im Arbeitszimmer des Pastors im Erdgeschoss. Alle Räume sind so vollgestopft mit Menschen wie die Korridore der Titanic in der Nacht, als sie gesunken ist.
Sie müssen hier irgendwo sein. Oder haben sie das Gebäude verlassen?
Die verdammten Flüchtlinge sprechen ihn am laufenden Band an, fragen nach Medikamenten oder Decken, bitten ihn um seinen Segen oder wollen mit ihm über die Bibel sprechen. Gerards Frau wird die nächste Stunde mit Unterrichten beschäftigt sein. Wenn er also ein Mitglied der Familie Gerard in seine Gewalt bringen will, muss er sich an die Kinder halten.
Aber die verfluchte Kirche ist so riesig, überall finden irgendwelche dämlichen Aktivitäten statt, die Chris Van Horne initiiert hat, Brettspiele, Mathe-Wettbewerbe. Und der Organist hört einfach nicht auf zu spielen.
Davon abgesehen könnte man meinen, der Cartoonist Rube Goldberg hätte das Gebäude entworfen oder ein mittelalterlicher Mönch mit einem Faible für enge, gewundene Flure. Von den drei Ausgängen des Kirchenschiffs gelangt man zu vier Treppen, je zwei zu beiden Seiten der Eingangshalle. Zwei führen hinauf in die Büroräume im ersten Stock beziehungsweise auf die Empore. Über die beiden anderen gelangt man ins Untergeschoss, wo sich die Obdachlosenunterkunft, die Küche, der Unterrichtsraum, die Bibliothek, der Durchgang zum Kindergarten und weiß der Kuckuck was noch alles befindet, was Young bisher nicht eruiert hat. Das Ganze muss einmal ein Schutzbunker gewesen sein. Die Türen von Wandschränken und Toiletten sind eine echte Überraschung: Sie sind in die Mauern eingelassen. Nirgendwo ein Ort, an den man sich zurückziehen kann. Unmöglich, ein Kind unbemerkt aus diesem Irrenhaus nach draußen in die Abgelegenheit des Unwetters zu zerren.
Kann es sein, dass die verdammten Kinder immer genau in die andere Richtung unterwegs sind? Sind sie womöglich hinter ihm? Er klappert Räume ab, die er vor zehn Minuten schon einmal durchsucht hat. Als er um eine Ecke biegt, steht er plötzlich wieder an einer Stelle neben einem bleiverglasten Flurfenster, die er bereits überprüft hat. Er sieht jede Menge Kinder und Jugendliche in der Epiphanienkapelle, im Kinderbetreuungsraum »Arche Noah«, in »Jesu Schutzraum« und vor der Anschlagtafel mit den Fotos von Flüchtlingen, über der ein handgeschriebenes Schild hängt: »Neue Freunde«.
Aber nicht Gerards Kinder.
Sein Ururgroßvater hat Soldaten einmal als »empfindungsfähige Marionetten auf Gottes Bühne« bezeichnet. Wenn das hier keine göttliche Komödie ist, dann weiß ich es nicht, denkt Pastor Young.
Ein großes, schlankes, hübsches schwarzes Mädchen.
Ein kleiner, dunkelhäutiger Junge mit einem zerzausten Lockenkopf.
Und dann endlich, als ihm vor Frustration fast der Kragen platzt, will es der glückliche Zufall, dass er zwei Gestalten erspäht, die in einem Wandschrank verschwinden und die Tür hinter sich zuziehen. Er bleibt vor der Tür stehen und lauscht.
DAS MÄDCHEN: Du kannst sagen, was du willst. Ich gehe!
DER JUNGE: Wenn du gehst, sag ich es Mom.
DAS MÄDCHEN: Ich hab geträumt, dass die Gepardenjungen noch leben. In einem Versteck. Ihre Eltern wurden getötet.
DER JUNGE: Selbst wenn sie wirklich noch leben würden, wären sie so ausgehungert, dass sie versuchen würden, dich zu fressen.
DAS MÄDCHEN: So sind Geparden nicht. Früher haben die Leute sich Geparden sogar als Haustiere gehalten. Wenn du mich verpetzt, red ich nie wieder ein Wort mit dir.
DER JUNGE: Annie, bitte. Du hast deine Eltern verloren …
DAS MÄDCHEN: Ich halte mir die Ohren zu.
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