Black Monday
den völlig abgespannten Mann, als dieser ihm das Gesicht zuwendet, auf Mitte zwanzig. Die Augen hinter der Nickelbrille sind von roten Äderchen durchzogen. Evander schüttelt eine Filterzigarette aus einer Schachtel.
»Jemand muss meine Proben testen«, sagt Gerard.
»Wovon reden Sie überhaupt?«
Gerard muss sich gut überlegen, wie er die Sache erklärt, damit der Mann ihre immense Bedeutung erfasst. »Ich arbeite für das CDC in Fort Detrick. Ich forsche an Delta-3. Ich habe Ablagerungen in den Luftschächten von Cougar gefunden und –«
Evanders Blick wird mitleidig.
»Die Proben könnten Beweismittel sein. Die Soldaten haben sie mir abgenommen.«
»Hat man Ihnen eine Empfangsbestätigung dafür gegeben? Das ist eigentlich Vorschrift.«
Evander hält den Computerausdruck hoch. Seinem Akzent nach zu urteilen, stammt er aus dem Südosten der Vereinigten Staaten.
»Ich weiß nichts von irgendwelchen Proben. In wenigen Minuten beginnt Ihr Prozess. Ich bin Ihr Verteidiger. Wir müssen uns vorbereiten, wenn Sie am Leben bleiben wollen.«
Gerard bleibt fast die Luft weg. »In wenigen Minuten?«
»Ihnen wird Verschiedenes zur Last gelegt«, erklärt Evander und beginnt vorzulesen: »Missbrauch Ihres Dienstausweises in vier Fällen, rücksichtslose Gefährdung von Soldaten, was zu neun Todesopfern geführt hat, und Sabotage der Antiterrorbemühungen. Durch Ihre Schuld haben wichtige Personen Flüge verpasst. Krimineller Missbrauch von Laborgeräten. Befehlsverweigerung. Und nicht zu vergessen: Plünderung. Worauf werden Sie plädieren?«
»Plünderung?! Sind Sie verrückt geworden?!«
Evander drückt auf einen Kugelschreiber. »Den Rest geben Sie also zu?«
Er kritzelt etwas auf einen Schreibblock.
»Was schreiben Sie da? Ich gebe überhaupt nichts zu!«
»Ich kann Ihnen nur eins raten: Bestreiten Sie die Plünderung. Plünderer werden erschossen. Das Gericht wird eher geneigt sein, Ihnen zu glauben, wenn Sie irgendetwas zugeben. Nach dem Hinterhalt in Las Vegas hat General Winston in Washington angerufen. Anscheinend haben Sie sich bei einer Verteilstelle für Lebensmittel der Plünderung schuldig gemacht.«
»Das ist nicht wahr.«
Gerard fühlt sich schwach. Evanders Handy klingelt. Für einen so erschöpft wirkenden Mann greift er sehr schnell danach. Obwohl er flüstert, sind seine ängstlichen Worte zu verstehen. »Shawna, wie geht es ihm? Shawna?«, sagt er.
Evander wirkt erleichtert. »Nickys Fieber ist gesunken? Gott sei Dank!«
Gerard denkt: Wie dringe ich zu diesem Mann durch?
Während Evander sich die Tränen aus den Augen wischt, fällt Gerard auf, dass dies einmal das Arbeitszimmer eines PR-Mannes gewesen sein muss. Auf einem Schild an der Wand steht: IDIOT DES JAHRES.
Evander sagt ins Telefon: »Du hast den Ring gegen Antibiotika getauscht? Macht nichts, ich kaufe dir einen neuen Ehering.«
Gerard muss an seine eigenen Angehörigen denken, mit denen er zuletzt vor drei Tagen gesprochen hat. Marisa hat ihm erzählt, Gail Hansen habe sich in ihrem Haus eingeschlossen und betrinke sich ständig. Woher kriegt sie den Schnaps? Paulo habe verkündet, die Rationen würden noch einmal halbiert. Annie bettelt darum, in den Zoo gehen zu dürfen.
»Nein.«
Evanders Hand zittert, als er das Handy weglegt. Er richtet seine Krawatte, versucht, mit kleinen Übersprungshandlungen von verzweifeltem Familienvater auf professioneller Jurist umzuschalten. Gerard weiß, dass er die volle Aufmerksamkeit des Mannes benötigt.
Aber überall verkehren sich die Rollen. Die Menschen sind hin- und hergerissen zwischen Pflichterfüllung und Sorge um ihre Familie, zwischen Vaterland und Zuhause.
»Ich habe falsche Tatsachen vorgetäuscht, um zu Cougar zu gelangen«, sagt Gerard schließlich, »weil ich die Herkunft von Delta-3 ausfindig machen wollte. Die Mikrobe ist womöglich in den Fabrikanlagen in die Flüssigkeiten gelangt, die Cougar überallhin liefert, und zwar über die Klimaanlage.«
»Ja, ja. Die Klimaanlage.«
»Hören Sie. Das ist ein technisches Problem. Sehen Sie, sporenbildende Bakterien …«
»Commander, wir haben nicht viel Zeit, und ich höre mir jetzt schon seit Tagen immer neue Lügenmärchen an. Sie können sich gar nicht vorstellen, was für einen Scheiß die Leute einem hier erzählen. Zeugen haben berichtet, dass Sie bei einer Lebensmittelausgabe in Washington Ihren Dienstausweis missbraucht haben. Sich widerrechtlich in den Besitz von Lebensmitteln zu bringen ist Plünderung.
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