Black Rabbit Summer
Moment schoss mir ein unbekanntes und beunruhigendes Bild durch den Kopf – etwas Weißes, Trauriges, vage Vertrautes –, doch es war schon verschwunden, ehe ich Zeit hatte, drüber nachzugrübeln. Ich schüttelte es aus meinen Gedanken, trat auf Stella zu und blieb direkt vor ihr stehen. Einen Augenblick sah ich sie an, dann beugte ich mich vor und sprach ihr leise ins Ohr, damit niemand hören konnte, was ich ihr sagte. »Hör auf, mit ihm rumzuspielen«, flüsterte ich. »Okay?«
Ihr Lächeln zeigte keine Reaktion. »Sonst passiert
was
?«
Ich hatte keine Antwort parat, deshalb starrte ich sie nur an. Auch wenn sie mich immer noch anlächelte, konnte ich keine Spur von Herzlichkeit in ihrem Gesicht entdecken. Keine Freude in ihren Augen. Was ich sah, war nur eine kalte, spöttische Leere. Es war der Blick eines Mädchens, das ernsthaft glaubte, sie sei das einzig Interessante auf dieser Welt.
»Du wirst dir noch wünschen, dass du das nicht getan hättest«, sagte sie lässig.
»Meinst du?«
Sie lächelte. »Du hast ja keine Ahnung...«
Dann wurde alles merkwürdig still. Für einen Moment schienen die wahnsinnig machenden Kirmesgeräusche gedämpft und fern, wie unter Wasser, und das brabbelnde Geschnatter der Menge rings um uns herum verlor sich in einem kaum hörbaren Summen. Auch die Lichter verloren ihren Glanz. Ihr Leuchten war getrübt, erstickt von der Schwärze der Nacht, und das Einzige, was ich noch mit voller Klarheit sah, waren Stellas dunkle Augen, die tief in meine starrten. Dann plötzlich machte es irgendwie Knack, ein |102| scharfer elektrischer Ton wie der von Lautsprechern verstärkte Schlag einer Peitsche – und alles war wieder lebendig. Die Musik, die Lichter, die Menge, die Fahrgeschäfte...
Stella lachte und nahm ihren Arm von Raymonds Schulter. »Ich hab nur für dich auf ihn aufgepasst«, sagte sie zu mir. »Du kannst ihn jetzt wiederhaben.« Sie warf Raymond einen Blick zu. »In Ordnung?«
Er nickte ihr zu.
»Dann hau ab«, sagte sie zu ihm. »Verschwinde und hol dir doch deinen Hotdog.«
Auf einmal fühlte ich mich erschöpft. Mir war zu heiß, ich war verschwitzt. Der ganze Körper tat mir weh und mein Kopf brummte von zu viel von allem. Ich wollte etwas zu Raymond sagen, etwas, das ihm half und ihn beruhigte, aber es war, als könnte ich meine Stimme nicht finden. Deshalb ging ich nur einfach zu ihm hinüber, nahm seinen Arm und führte ihn schweigend weg.
Eine Weile sprachen wir nichts, sondern liefen nur durch das Gewusel der Massen, auf das hintere Ende der Kirmes zusteuernd. Ich weiß nicht, wieso, aber ich dachte, dass es dort vielleicht ruhiger wäre und ein bisschen weniger durchgeknallt, außerdem hoffte ich, dort Toiletten zu finden. Inzwischen war ich ziemlich in Not.
Zwischen den Menschenmassen ging es nur langsam vorwärts, und als wir uns endlich dem hinteren Ende näherten, wurde es nicht etwa leiser, sondern eher noch lauter und voller. Mehr Leute, mehr Lärm, mehr Wahnsinn. Ich verstand das erst gar nicht, doch nach einer Weile wurde mir klar, dass hier einer von diesen Plätzen war – ein Ort, der Gangs anzog und alle Jugendlichen, die auf Zoff aus waren. Sie standen in |103| Scharen dort – die meisten um einen großen Autoscooter. Einige tranken Dosenbier, andere hingen einfach nur so rum und machten einen auf harte Macker. Der Autoscooter war riesig, eine gewaltige Arena mit ineinanderkrachenden Wagen und grellblauen Blitzen, überall Schreie und dumpfe Aufprallgeräusche, dazu wummernde Rapmusik. Während wir vorbeigingen und aufpassten, dass wir niemanden anrempelten, verlor sich das Ineinanderkrachen der Wagen und der wütende Wortschwall der Rapmusik im Rattern und Wirbeln einer benachbarten Krake. Lichter blitzten auf –
EVOLUTION!
– und Madonnas Kleinmädchenstimme dröhnte –
Like a child you whisper softly to me...
»Nicole«, schrie mir Raymond ins Ohr.
»Was?«, schrie ich zurück.
Er blieb stehen und zeigte zu der Krake hinüber. Die Gondeln zischten vorbei, kreiselten, wirbelten herum, bewegten sich rauf und runter, und es war schwer, in dem Gewirr aus Lichtern und kreischenden Gesichtern irgendwas zu erkennen ... doch dann sah ich sie. Sie saß mit zwei anderen Mädchen in einer Gondel. Die eine erkannte ich – eine Schulfreundin von Nic –, wer die andere war, wusste ich nicht. Sie schienen alle drei ziemlich betrunken – wilder Blick und total durch den Wind –, und während sie weiter herumwirbelten, sah ich, dass sich
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