Black Rabbit Summer
zu ihnen hinüber in dem verzweifelten Wunsch hinzulaufen und ich wusste, wahrscheinlich wäre es völlig okay, wenn ich es täte. Es würde ja nur ein, zwei Minuten dauern... Raymond wäre bestimmt noch da. Aber
bestimmt
reichte nicht. Lieber ertrug ich eine platzende Blase, als noch einmal nach Raymond suchen zu müssen. Deshalb atmete ich tief durch, biss mir auf die Lippen und folgte ihm in das Zelt.
|108| Sieben
D ie einzigen Wahrsagerinnen, die ich kannte, waren die aus schrottigen alten Filmen, deshalb erwartete ich eine runzlige alte Zigeunerin mit langen schwarzen Haaren und langen schwarzen Fingernägeln, silbernen Armreifen an den Handgelenken und einem Schal um die Schultern. Doch die Frau, die mit Raymond am Tisch saß, war völlig anders. Sie beugte sich nicht über eine Kristallkugel, sie hatte keine langen schwarzen Haare und sie war auch nicht alt und runzlig. Ich hielt sie für um die vierzig, vielleicht etwas jünger. Oder vielleicht etwas älter. Es war schwer zu sagen. Sie hatte dunkle Augen, sehr blasse Haut, die dunkelbraunen Haare waren zu einem Zopf geflochten und am Kopf zu einem Knoten zusammengesteckt. Trotz der Hitze trug sie ein altmodisches braunes Wollkleid, das bis zum Hals zugeknöpft war. Und das war es auch schon so ziemlich – keine Ringe an den Fingern, keine silbernen Armreife, kein Zigeunerschal um die Schultern. Sie wirkte gar nicht besonders geheimnisvoll. Doch als ich im Eingang des Zelts stand und sie mich ganz ruhig ansah, fiel es mir schwer, meinen Blick von ihr zu wenden.
»Komm bitte rein«, sagte sie, mich herüberwinkend.
Die Luft im Zelt war überraschend kühl und still, und als |109| ich mich aus dem Eingang löste und auf den Tisch zuging, schien der Lärm der Kirmes nachzulassen und in der Stille zu versinken. Auf dem Tisch lag eine schlichte schwarze Decke, darauf befanden sich eine brennende Kerze und ein Kartenspiel. Raymond saß mit dem Rücken zu mir, und als ich hinter ihm stehen blieb und meine Hand auf seinen Arm legte, sah er über die Schulter und lächelte mich an.
»Nimm Platz«, sagte die Frau zu mir und nickte in Richtung eines freien Stuhls neben Raymond.
»Ist schon okay, danke«, antwortete ich und rückte ein bisschen ab. »Ich bleib einfach hier stehen, wenn das geht.«
Sie lächelte gelassen. »Hast du es eilig?«
Ich zuckte die Schultern.
Sie sah mich an. »Du glaubst nicht dran.«
»Wie bitte?«
Sie schwieg einen Moment, sah mich nur an. Ihr Blick verunsicherte mich ein bisschen, sie schien mich zu studieren, in mir zu lesen, nach meinen Geheimnissen zu suchen. Natürlich wusste ich, dass sie keine geheimnisvollen Kräfte oder so was besaß, und ich wusste auch, dass die ganze Wahrsagerei nichts als Beschiss war... ich meine, wenn sie
tatsächlich
in die Zukunft schauen könnte, säße sie doch nicht samstagnachts mitten in einem Freizeitpark in einem Zelt, oder? Wenn sie
tatsächlich
in die Zukunft schauen könnte, wäre sie ja wohl steinreich und berühmt, eine Milliardärin ... dann wäre sie doch die mächtigste Frau der Welt.
Also nein, ich glaubte nicht dran.
Das Einzige, woran ich in dem Moment glaubte, waren die Schmerzen in meiner Blase, die mir Tränen in die Augen trieben.
»Du kannst ruhig kurz verschwinden, wenn du willst«, |110| sagte die Frau zu mir.
Ich schaute sie an, nicht sicher, was sie meinte.
Sie lächelte. »Wir werden noch hier sein, wenn du zurückkommst.«
»Ist alles okay, danke«, murmelte ich.
Sie sah mich noch einen Moment an und lächelte ruhig vor sich hin, dann wandte sie sich – mit einem leichten Kopfnicken – Raymond zu.
»Also«, sagte sie leise und blickte ihm in die Augen, »lass uns mal schauen, was wir wissen.« Sie nahm das Kartenspiel in die Hand. »Sitzt du bequem?«
Raymond nickte.
»Ist dir nicht zu heiß?«
Er schüttelte den Kopf.
Sie sagte: »Es war eine lange Nacht... für euch beide. Es sind Dinge geschehen, die man nicht mehr vergisst.«
Raymond sagte nichts.
Ich beobachtete die Hände der Frau, wie sie das Spiel zurück auf den Tisch legten und die Karten mit dem Blatt nach unten in einer Reihe verteilten. Auf den Rückseiten gab es weder Bilder noch Muster – sie waren alle einfarbig dunkelrot –, und als die Frau die Karten aufdeckte, war ich überrascht, dass es sich um ganz normale Spielkarten handelte – Herz, Kreuz, Karo, Pik... die üblichen zweiundfünfzig Karten. Nichts Ausgefallenes, nichts Besonderes.
»Du magst Tiere«, sagte die Frau zu
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