Black Rabbit Summer
Raymond.
»Ja... ja, das stimmt.«
Sie sammelte die Karten wieder ein und legte den Stapel zurück auf den Tisch. »Tiere«, sagte sie leise. »Du fühlst dich ihnen nahe.«
»Ja.«
|111| »Sie geben dir ein gutes Gefühl.«
Ich konnte Raymonds Gesicht nicht sehen, aber ich wusste, dass er lächelte.
Die Frau legte ihre rechte Hand auf die Tischdecke – die Handfläche nach unten, die Finger gespreizt. Sie betrachtete die Hand eine Weile, zog sie wieder vom Tisch und dann zeichnete sie – mit dem Zeigefinger der linken Hand – den Umriss von etwas um die Fläche herum, wo ihre Hand gelegen hatte. Ihr Finger hinterließ nichts Sichtbares auf der dunklen Decke, deshalb verstehe ich überhaupt nicht,
wieso
ich wusste, was sie zeichnete... doch in meinem Kopf gab es keinen Zweifel, dass es ein Kaninchen war.
Sie sah Raymond an. »Er ist nicht schwarz genug, hab ich recht?«
Raymond starrte auf das unsichtbare Bild. »Nicht ganz...«
»Ich bräuchte eine blassere Hand.«
Mir war klar, was sie meinte. Die Blässe der Hand hatte das Schwarz der Decke noch schwärzer erscheinen lassen, trotzdem war es nicht so schwarz wie Black Rabbit.
»Er ist auch weicher«, sagte Raymond.
»Natürlich.«
Die Frau lächelte wieder. Langsam wischte sie mit ihrer Hand über die Decke und löschte das unsichtbare Bild aus, dann nahm sie wieder die Karten zur Hand. Ich beobachtete sie genau, als sie anfing die Karten zu mischen, und versuchte der Bewegung ihrer Hände zu folgen, doch ich sah die schnelle Bewegung der Karten nur verschwommen. Ihre Hände schienen sich überhaupt nicht zu rühren. Sie beendete das Mischen, stieß den Stapel sauber in Form und legte ihn vor Raymond zurück auf den Tisch.
|112| »Bitte teil jetzt den Stapel«, erklärte sie ihm.
»Egal wo?«
»Es ist dein Schicksal, Raymond.«
Er streckte die Hand nach den Karten aus. Einen Moment lang ließ er sie zögernd über dem Stapel schweben, dann teilte er behutsam den Packen . Die Frau sagte ihm, er solle seine Karten auf den Tisch legen. Er legte sie ab und sie schob die beiden Stapel in die Mitte des Tischs.
»Such dir einen aus«, sagte sie.
Raymond streckte die Finger aus, zögerte wieder, dann berührte er den Stapel links. Die Frau entfernte den andern und ließ die Karten unter dem Tisch verschwinden, dann hob sie die verbliebenen Karten hoch. Sie schloss die Augen, atmete ein paar Mal tief durch und begann sie auszuteilen. Sie drehte sie unglaublich langsam um, platzierte sorgfältig eine neben der andern, mit dem Blatt nach oben. Als sie zur dritten Karte kam, war ich schon drauf und dran, mir zu sagen:
Gott, das kann ja ewig dauern
, doch dann plötzlich hörte sie auf. Sie öffnete die Augen, legte den Rest der Karten zur Seite und betrachtete konzentriert die drei auf dem Tisch.
Dabei geschah etwas mit ihr. Ich wusste nicht, was es war, und es dauerte auch nur einen Moment, doch in diesem Moment machte sie den Einruck, als hätte sie etwas Schreckliches gesehen. Ihr Blick erstarrte, ihr ganzer Körper versteifte sich und es schien, als bliebe ihr vor Schreck die Luft im Hals stecken. Erst dachte ich, sie hätte einen Herzanfall oder so, doch dann merkte ich, es waren die Karten. Irgendetwas an ihnen entsetzte sie, etwas, das nur sie sehen konnte. Ich hatte keine Ahnung, was es war. Das Einzige, was ich sah, waren drei völlig normale Spielkarten: eine Pik-Neun, eine Pik-Zehn |113| und ein Pik-Ass. Doch was immer die Frau in ihnen gesehen haben mochte und was immer das für sie bedeutete, es gelang ihr, das schnell zu kaschieren. Bevor ich überhaupt drüber nachdenken konnte, hatte sie sich schon gefangen und wirkte fast wieder normal. Wenn nicht das leichte Zittern in ihrer Stimme gewesen wäre, als sie anfing, Raymond die Karten zu erklären, hätte ich wahrscheinlich gedacht, dass das Ganze nur Einbildung war.
»Deine Vergangenheit, Raymond«, sagte sie mit sanfter Stimme und deutete auf die Karte links von ihr, die Pik-Neun. »Du hast es nicht immer leicht gehabt, was?« Sie sah ihn an. »Es war schwer für dich... nach Dingen zu suchen, Dingen, die es nicht immer gab.« Sie schwieg einen Moment, betrachtete wieder die Karten und ich sah in ihren Augen die Traurigkeit, die sie niederdrückte. »Es gab, glaube ich, eine Zeit, da hattest du, was du brauchtest. Als du klein warst... ich meine, da gab es eine gewisse Geborgenheit für dich. Eine gewisse Sicherheit. Doch seither gab es zu viele Probleme. Zu viele Missverständnisse ...
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