Black Rabbit Summer
rätselte, ob es wirklich so war oder ob es an mir lag. An mir und dem Alkohol. An mir und dem Dope. An mir und der stickigen dunklen Hitze. Ich fühlte mich nicht mehr richtig betrunken oder bekifft, aber eindeutig immer noch schräg. Irgendwie schwirrend, verflüssigt, total warm und von innen her kribbelnd. Meine Wahrnehmung war gesteigert, ich war mir über alles in mir und um mich herum extrem bewusst: über den Boden unter meinen Füßen, die Dunkelheit, das Licht, das ferne Geräusch der Kirmes, den Schweiß auf meiner Stirn... ich konnte sogar das Blut in meinen Adern spüren. Es pochte im Gleichklang mit einem leisen metallischen Dröhnen in meinem Kopf –
wii-schusch, wii-schusch, wii-schusch
–, so wie eine alte Waschmaschine in einem leeren Keller.
Mir war schlecht.
Schwindelerregend übel.
Ich hatte Schmerzen an Stellen, von denen ich nicht einmal |93| wusste, dass es sie gab.
Doch aus irgendeinem unerfindlichen Grund schien mich nichts davon sonderlich zu berühren. Ehrlich gesagt war es auf eine seltsame Weise sogar ganz angenehm. Und als ich weiter durch die traumartig graue Dunkelheit schritt, fühlte ich mich langsam sogar schon besser. Nicht dass ich mich toll fühlte oder so, mein Kopf war noch immer von allem möglichen Mist aufgewühlt, doch so langsam konnte ich akzeptieren: Was immer mit Nicole geschehen war und egal, wessen Schuld es war, es war nicht das Ende der Welt.
Es war einfach etwas, das passiert.
Ich meine, schließlich war niemand
gestorben
, oder?
Niemand war verletzt worden.
Es war nur eine dieser beschissenen kleinen Geschichten, die aus dem Ruder laufen...
Genau das sagte ich mir jedenfalls –
es war nur eine von diesen Geschichten... kein Grund, sich Sorgen zu machen, bringt auch nichts, das Ganze verstehen zu wollen... es war nichts, einfach etwas, das passiert
–, und bis ich das Ende des Wegs erreichte, hatte ich mich weitgehend überzeugt, dass das die Wahrheit sei. Es gab
wirklich
keinen Grund, noch weiter drüber nachzudenken. Das Einzige, was jetzt zählte, war, auf die Kirmes zu gehen, Raymond zu finden und uns anschließend beide sicher nach Hause zu bringen.
Klar, wenn er ein Handy gehabt hätte, hätte ich ihn bloß anrufen müssen. Aber er hatte keins. Seine Eltern hatten es ihm nie erlaubt. Und Eric und Pauly? Es war so lange her, seit ich sie das letzte Mal angerufen hatte – selbst wenn ich eine Nummer gehabt hätte, wäre sie wahrscheinlich längst nicht mehr gültig gewesen.
Davon abgesehen, dass ich sowieso mit keinem von beiden |94| sprechen wollte.
Und außerdem war ich ja jetzt schon fast am Park.
Der Kirmeslärm wurde immer lauter – eine wabernde Kakofonie aus Musik und Maschinenlärm, Schreien, Gelächter, ohrenbetäubendem Prasseln künstlich verstärkter Stimmen –, und als ich aus dem Weg heraustrat und eine kleine Straße hinablief, spürte ich in der Luft, wie die Begeisterung Wellen schlug.
Das Parkgelände ist normalerweise abends geschlossen – nicht dass das irgendwen davon abhält hineinzukommen –, doch heute standen die Tore weit offen und die übliche schwarze Leere des nächtlichen Parks wurde von den Lichtern der Kirmes erhellt. Der Kirmesplatz selbst nahm nur einen kleinen Teil des Parks ein – einen zerklüfteten Kreis aus Buden, Fahrgeschäften, Karussells und Wohnwagen am äußersten Ende eines Wegs ganz rechts –, doch die flackernden Lichter und der wirbelnde Lärm schwappten über sämtliche Sport- und Spielflächen hinweg, alles wirkte seltsam verwandelt und fehl am Platz. Die Lichter in der Dunkelheit, der Lärm in der Leere, die Klänge höchster Erregung inmitten von Tristheit...
Es war immer noch heiß, obwohl es Nacht war, und die Luft wurde immer schwerer und stickiger. Sie roch nach Donner und Blitz. Ich konnte auch anderes rie-chen – den fleischigen Gestank von zu lange gebratenen Hamburgern, den süßen Duft von Parfüm und Zuckerwatte, die Hitze voller Abgase und brennender Lichter. Das alles war zu viel für mich und für einen Moment glaubte ich, ich müsste mich übergeben. Doch als ich kurz stehen blieb und ein paar Mal tief durchatmete, verging die Übelkeit schnell und ich spürte |95| auf einmal in mir eine Energie, die auf der Haut kribbelte.
Während ich den Weg weiterlief, war mir, als ob ich auf Watte ginge.
Obwohl ich mich eigentlich schon an die Lichter und den Lärm der Kirmes gewöhnt hatte, nahm mir, als ich den Kirmesplatz betrat, die schlagartige Explosion der Geräusche
Weitere Kostenlose Bücher