Black Rabbit Summer
Drecksweg.
Abgesehen von ein paar Kids, die auf ihren Skateboards bei den Gastürmen rumhingen, lag der Weg still und verlassen da. Es gab keine Leute, die mit ihren Hunden unterwegs waren, keine Penner, keine Spinner, keine merkwürdig aussehenden Männer mit Schnauzbart. Und auch kein Zeichen von Raymond. Ehrlich gesagt gab es überhaupt kein Zeichen. Ich hielt im Gehen die Augen offen und blickte mich nach allen Seiten um – nach unten auf das Brachfeld, die Böschung |186| hinauf, in die Bäume hinein –, aber ich wusste nicht so recht, wonach ich eigentlich suchte. Ich schaute anscheinend bloß. Ich schaute bloß...
Wenn ich es mir genau überlege, schaute ich eigentlich gar nicht so richtig. Ich meine, meine Augen waren zwar offen und sie bewegten sich hin und her, und wenn ich etwas gesehen
hätte
... dann wäre das okay gewesen – oder nicht okay, je nachdem, was ich sah –, aber in Wirklichkeit versuchte ich nur, meine Gedanken am Laufen zu halten, damit ich nicht drüber nachdachte, was ich vielleicht entdecken würde, wenn ich die Hütte erreichte.
Ich wusste, dass vielleicht alles in Ordnung sein würde, dass ich vielleicht Raymond dort fände, gesund und wohlauf ... und ich wusste auch, dass ich vielleicht überhaupt nichts finden würde. Aber es gab noch eine andere Möglichkeit, und die war es, die mir Sorgen machte, an die ich nicht denken wollte. Aber je näher ich zur Hütte kam, desto schwerer wurde es,
nicht
dran zu denken, und als ich anfing, die Böschung hochzukriechen und mich durch Gebüsch und Brombeergestrüpp zu schlagen, dachte ich nur noch an das Schlimmste.
Das lag wohl an dem Kaninchen, nehme ich an... an dem Bild von Black Rabbits abgeschlagenem Kopf am Gartentor, seinen leeren Augen, die ins Nichts starrten. Ich bekam das Bild nicht mehr aus meinem Kopf. Ich konnte auch nichts dagegen tun, dass es mir Streiche spielte und mich Dinge sehen ließ, die ich nicht sehen wollte.
Einen Kaninchenkopf mit Raymonds Augen...
Raymonds Kopf mit Kaninchenzähnen...
Schwarzes Fell, schwarze Kleidung...
Flüsternde Stimmen...
|187| Blut und Fliegen...
Da ist es.
Ich hatte das obere Ende der Böschung erreicht, und als ich schwer keuchend vor der Hütte stand, wirkte alles noch genauso wie am Tag zuvor. Die wuchernden Brombeerzweige, die Holzlatten, die verblichene blaue Farbe des Dachs. Alles war noch gleich.
Sieht okay aus, nicht?
Ich hab dir doch gesagt, sie ist noch da.
Ja, hast du.
Ich warf einen Blick über die Schulter und schaute die Böschung hinab. Niemand war dort. Ich wandte mich wieder der Hütte zu und trat vor die Tür.
Nach dir.
Nein, nach
dir
.
Einen Moment hielt ich inne und horchte auf den Widerhall von Raymonds Stimme, dann duckte ich mich und öffnete die Tür.
Drinnen war nichts. Nichts Albtraumhaftes, keine Leichen, kein Blut . . . nur herumliegende leere Flaschen, der abgestandene Geruch von Zigaretten und Schweiß und eine süße, dunkle Erinnerung, die ich vergessen wollte.
|188| Dreizehn
M um schaute im Wohnzimmer fern, als ich nach Hause kam. Sie hockte mit einer Zigarette in der einen Hand, der Fernbedienung in der andern auf der Kante des Sofas und war so gebannt von dem, was sie sah, dass sie mein Kommen offenbar gar nicht bemerkt hatte.
»Hey, Mum«, sagte ich. »Hat Dad angeruf–«
»Warte«, sagte sie und drehte die Lautstärke des Fernsehers hoch. »Ich glaube, da geht es um Stella.«
»Was?«
»Sky News«, sagte sie und nickte in Richtung Fernseher. »Sie sprechen von Stella.«
Ich drehte mich zum Fernseher um und starrte auf das Bild.
Eilmeldung
, hieß es unten auf dem Bildschirm.
Bekannter Teenager wahrscheinlich vermisst
. Die Nachrichtensprecherin – eine modisch gekleidete Frau mit sehr kleinem Kopf und sehr voluminöser Haarfrisur – hielt ein Blatt in der Hand und starrte auf einen Laptop.
»... diese Berichte wurden noch nicht bestätigt«, sagte sie, »aber soweit wir erfahren haben, wurde die Polizei in Essex heute am frühen Morgen von Mr und Mrs Ross alarmiert und Beamte ermitteln zurzeit in der Umgebung von St Leonard’s, wo Miss Ross zuletzt gesehen wurde.« Die Nachrichtensprecherin |189| legte das Blatt beiseite und schaute ernst in die Kamera. »Stella Ross«, sagte sie zusammenfassend, »heute Morgen offenbar als vermisst gemeldet.« Sie blickte wieder auf ihren Laptop, drückte eine Taste und schaute danach erneut in die Kamera. »Unser Reporter, John Desmond, ist jetzt in St Leonard’s vor Ort und wir
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