Black Rabbit Summer
Rauputzgebäuden. Es hatte verdreckte Fenster und eine kackfarbene Tür, davor gab es einen schäbigen Abstellplatz aus aufgeplatztem Beton, aus dem Unkraut wuchs. Ich stieg von meinem Rad, schob es zur Haustür und lehnte es gegen die Hauswand.
Ich klingelte und wartete.
Es war ein merkwürdiges Gefühl, Pauly zu Hause zu besuchen. Eigentlich hätte alles vertraut sein müssen, aber das war es nicht. Und während ich dastand und auf die Tür mit der abblätternden Farbe starrte, dachte ich wieder an früher, an die Zeiten, als Pauly und wir andern zusammen rumhingen, und auf einmal wurde mir klar, dass wir damals fast nie zu Pauly nach Hause gegangen waren. Ehrlich gesagt war ich, soweit ich mich erinnerte, erst zweimal dort gewesen. Und selbst da hatte mich niemand hereingelassen.
Aber das war eine Ewigkeit her...
Als Pauly endlich die Tür öffnete, war er genauso unmaskiert wie auf der Kirmes, als ich ihn allein gesehen hatte – in seinem Blick lag dieselbe Verlorenheit, Einsamkeit und Düsternis. Er war barfuß und trug nur Jeans, wahrscheinlich war er gerade erst aufgewacht. Die Haare waren ungekämmt, die Augenlider schwer und es dauerte ein paar Sekunden, ehe er mich erkannte.
»Pete?«, sagte er, blinzelte und rieb sich die Augen. »Hey... was machst du hier?«
»Ich muss mit dir reden«, erklärte ich ihm.
»Ja?« Er schaute mir jetzt über die Schulter und suchte instinktiv die Straßen ab. »Du hättest vorher anrufen sollen«, sagte er, immer noch ohne mich richtig anzusehen. »Ich wollte gerade los –«
|226| »War die Polizei schon bei dir?«, fragte ich ihn.
Plötzlich konzentrierte sich sein Blick auf mich. »Was?«
»Die Polizei – hat sie sich schon bei dir gemeldet?«
»Wegen was denn?«
»Na, wegen was wohl?«
»Ach so, klar... Stella. Ich hab’s in den Nachrichten gesehen.« Er schüttelte den Kopf. »Konnt’s gar nicht glauben...«
In seinen Worten lag nicht mal ein Funke von Fassungslosigkeit, es waren nur Worte – Sachen, die man sagt, weil man meint, etwas in der Art sagen zu müssen. Auch die Verwirrung in seinem Blick wirkte nicht sehr überzeugend.
»Aber wieso sollten die Bullen mit mir reden wollen?«, fragte er. »Ich weiß nichts über Stella.«
»Raymond ist auch verschwunden.«
»Raymond?«, fragte er. »Was hat Raymond damit zu tun? Er war doch nicht mal...«
»Er war nicht mal was?«
Pauly zögerte, dann kam ein kurzes nervöses Grinsen. »Hä?«
»Raymond war nicht mal
was
?«, wiederholte ich.
»Nein, nichts... ich meine, er war doch gar nicht im Fernsehen ... also Raymond. Verstehst du, sie haben in den Nachrichten nichts von Raymond gebracht.«
Ich starrte ihn an. Er mied jetzt wieder meinen Blick und tat so, als würde er die Straße entlangschauen. Er kratzte sich im Nacken, rieb sich den nackten Bauch, pulte an einer verkrusteten Stelle unter seinem Auge...
»Kann ich jetzt vielleicht mal reinkommen?«, fragte ich ihn.
»Was?«, sagte er grinsend.
»Ob ich reinkommen kann.«
|227| »Ich wollte gerade los.«
»Willst du gar nicht wissen, was die Polizei mich gefragt hat?«
»Sie haben mit dir geredet?«
Ich nickte. »Heute Morgen.«
»Was hast du ihnen erzählt?«
»Lass mich rein«, sagte ich, »dann sag ich’s dir.«
Bei Pauly zu Hause gab es keinen Sommer. Trotz der Hitze draußen war drinnen alles kalt und klamm und dunkel. Es war, als fiele niemals Licht in dieses Haus.
Als ich Pauly die enge Treppe hinauf in sein Zimmer folgte, überlegte ich, wo seine Eltern sein mochten. Schliefen sie noch? Waren sie arbeiten? Waren sie unten? Ich hatte niemanden gesehen oder gehört und das Haus strahlte eine völlige Leere aus, aber ich hatte den Eindruck, dass es das von sich aus tat, deshalb ließ sich daraus unmöglich schließen, ob seine Eltern daheim waren oder nicht. Es war nicht weiter wichtig, aber als ich darüber nachdachte, fiel mir plötzlich auf, dass ich eigentlich gar nichts über seine Eltern wusste. Ich konnte mich weder erinnern, sie irgendwann mal gesehen zu haben, noch daran, dass Pauly sie erwähnt hätte. Und wer weiß, ob es überhaupt eine Mutter
und
einen Vater gab. Seine Eltern konnten geschieden sein oder getrennt leben, vielleicht war auch einer von ihnen gestorben ...
»Pass auf die Zeitung auf«, sagte Pauly, als wir den oberen Flur erreichten. »Die Scheißkatze hat mal wieder gekotzt.«
Ich machte einen großen Schritt über die verdreckte Zeitungsseite und folgte Pauly in sein Zimmer.
|228| Es war nicht
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