Black Rabbit Summer
jederzeit freistünde |286| zu gehen, blickte ich auf meine frisch gewaschenen Hände nieder und rieb an den Tintenresten, die vom Fingerabdrucknehmen noch in meiner Haut saßen. Das hatten sie gleich gemacht, kurz nachdem wir auf dem Revier angekommen waren. Ich hätte es ablehnen können, genauso wie ich hätte ablehnen können, dass sie eine DN A-Probe nahmen, doch sie hatten gemeint, es diene lediglich dazu, Spuren auszuscheiden und so vielleicht die Untersuchungen zu beschleunigen... deshalb hatte ich eigentlich gar keine richtige Wahl.
Ich rieb wieder an meinen Fingern und starrte auf die leicht verfärbten Muster an meinen Fingerspitzen – die Schleifen und Bögen, die Inseln und Erhebungen – und einen Moment lang sah ich sie als Konturen einer Landkarte und hatte das Gefühl, von weit oben am Himmel auf eine Landschaft aus Bergen und Tälern zu schauen...
»Ist das okay, Peter?«
Ich schaute zu Kriminalkommissar Barry auf. »Wie bitte?«
»Hast du verstanden, was ich dir gerade erklärt habe?«
»Ja.«
»Bist du sicher?«
»Ja, ich hab alles verstanden.«
»Gut.« Er lächelte verkniffen. »Dann lass uns anfangen.« In den ersten zehn Minuten oder so lief alles ziemlich glatt. Kommissar Barry fragte mich, was am Samstagabend passiert war, ich fing an zu erzählen und Gallagher schrieb das Ganze mit. Ab und zu unterbrach mich Barry kurz und bat mich, etwas zu klären – wie spät es war oder ein Detail zu irgendwas –, doch die meiste Zeit sagte er gar nichts. Er saß nur da, starrte mich an und horchte genau auf jedes einzelne Wort.
|287| Aber dann, gerade als ich ihm von der Begegnung mit Tom Noyce erzählt hatte und wie ich den Eindruck gehabt hatte, dass Raymond ihn kannte, stellte mir Barry eine Frage, auf die ich nicht gefasst war.
»Erzähl mir von Raymond«, sagte er.
»Wie meinen Sie das?«
Barry lächelte mich an. »Du kennst ihn schon lange.«
»Ja, seit der Kindheit.«
»Wie ist er?«
»Was meinen Sie damit?«
»Na ja, wie würdest du ihn beschreiben?«
Ich zuckte die Schultern. »Ziemlich klein, schwarze Haare –«
»Nein«, sagte Barry. »Ich meine nicht körperlich, sondern was für ein Typ ist er?«
»Was für ein Typ?«
Barry nickte. »Ist er still? Laut? Schüchtern? Gesellig? Kommt er mit anderen Leuten gut aus?«
»Er ist ziemlich still«, sagte ich. »Dass er gesellig ist, würde ich eher nicht sagen.«
»Wieso nicht?«
»Keine Ahnung, er ist einfach ein bisschen...«
»Ein bisschen was?«
Ich sah Mum an.
Sie sagte zu Barry: »Raymond war immer so ein bisschen ein –«
»Tut mir leid, Mrs Boland«, unterbrach sie Barry und hob die Hand. »Ich würde das lieber von Peter hören, wenn es Ihnen nichts ausmacht.« Er warf ihr ein kurzes Lächeln zu, dann schaute er wieder mich an: »Was wolltest du sagen?«
Einen Moment lang starrte ich ihn an, verärgert über sein |288| gönnerhaftes Lächeln, doch dann erinnerte ich mich daran, was Dad gesagt hatte –
bleib ruhig
–, und ich holte tief Luft und fuhr fort. »Raymond ist einfach ein bisschen anders«, erklärte ich Barry. »Ich glaube, er hat ziemlich viele Probleme gehabt –«
»Was für Probleme?«
»Mobbing, Probleme zu Hause... so was in der Art.«
»Würdest du sagen, er ist introvertiert?«
»Ich glaub schon, aber nicht in...«
»Ist er schnell gereizt?«
»Nein.«
»Hat er sich schon mal seltsam verhalten?«
»Wie zum Beispiel?«
»Irgendwie nicht normal...«
»Ab und zu macht doch jeder mal komische Dinge.«
Barry lächelte. »Das stimmt. Aber hier geht es nicht um jeden, es geht um Raymond. Ist er jemals gewalttätig geworden?«
»Nein«, sagte ich bestimmt. »Nie.«
»Er hat sich nie für irgendwelche Mobbingattacken oder Ähnliches gerächt?«
»Nein.«
»Hat er eine Freundin?«
»Was hat das damit zu tun?«
»Beantworte bitte einfach meine Frage. Hat Raymond eine Freundin?«
»Nicht dass ich wüsste.«
»Hat er jemals eine Freundin gehabt?«
»Weiß nicht...«
»Einen Freund?«
»Er ist doch nicht schwul.«
|289| »Dann eben eine Freundin.«
»Hab ich doch schon gesagt. Ich
weiß
nicht, ob er jemals eine Freundin hatte oder nicht.«
Barry runzelte die Stirn. »Immerhin ist er dein Freund, oder?«
»Das heißt aber nicht, dass er mir alles erzählt.«
»Erzählt er dir nicht, was er über bestimmte Dinge denkt?«
»Über was?«
»Mädchen, Sex...« Er lächelte. »Das Übliche, worüber Jungs eben so miteinander reden.«
»Entschuldigung«, mischte sich Mum ein,
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