Black Swan - Silberner Fluch

Selbstverteidigung. Haben Sie jemals eine Sylphe kennengelernt, meine Liebe? Gemeine Kreaturen, ebenso wie jene, die Sie bei Oberon und Puck in den Schatten herumlungern sahen. Was glauben Sie, wieso nennt man Oberon den Fürst der Schatten? Er benutzt Sie ebenso wie der Vampir – er will die Schatulle selbst in die Hände bekommen, um damit das Menschengeschlecht zu unterjochen. Glauben Sie, Oberons Geschöpfe mögen es, in die Schatten verbannt zu sein? Glauben Sie, unsere wässrige Freundin hier lebt gern in den Abwässerkanälen? Einst haben sie die Welt regiert, und das würden sie nur zu gern wieder tun. Wie viel Platz bliebe noch für die Menschen, sobald sie es täten?«
    Ist das wahr? , fragte ich Melusine.
    Sie antwortete nicht. Stattdessen sah ich das Bild eines Mannes in königlichen Roben mit einer Krone auf dem Kopf, das Gesicht vor Abscheu verzerrt. Er stand in einem Saal, dessen Boden vor Blut und Eingeweiden schwamm.
Das ist alles deine Schuld, schrie er. Es ist dein verdorbenes Blut, das in seinen Adern fließt!
    Ihr Menschen seid es, die keinen Platz für uns haben , sagte sie endlich.
    »Und was würdest du nicht alles tun, um das Unrecht zu rächen, das dir und deinem Volk angetan wurde, nicht wahr, Melusine?«
    Sie schlug mit ihrem langen Schwanz und zischte. In den letzten Minuten war ihr Körper immer greifbarer geworden, Zorn und Bitterkeit machten ihre Zellen schwer wie ein Ölfilm das Gefieder einer Möwe. Melusine hatte Recht – Dee versuchte, uns beide dazu zu verleiten, dass wir wieder Gestalt annahmen, indem er uns provozierte. Es verlockte mich tatsächlich, genau das zu tun, allein aus dem Grund, dass sich vielleicht durch Zufall eine Gelegenheit ergeben mochte, Dee zu vernichten. Aber ich hatte nicht den Eindruck, bisher schon genügend ausgebildet worden zu sein, um einen Angriff zu wagen, zumal er einen gewissen Zugang zu meinen immateriellen Gedanken hatte und das verhinderte, dass ich das Überraschungsmoment auf meiner Seite hatte.
    Wir sollten gehen. Ich versuchte zu flüstern, nur eine kleine Wasserschwingung auszusenden, aber Melusine war schon zu sehr in Fahrt, und es hätte sie wohl höchstens eine große Welle erreicht. Dee jedoch hatte ein feines Gehör.
    »Ja, vielleicht sollten Sie gehen, meine Liebe. Ihre Freunde brauchen Sie. Ihre Freundin Becky dürfte Ihnen inzwischen elf neue Nachrichten auf Ihrer Mailbox hinterlassen habe. Ich fürchte, der Streit zwischen ihr und Ihrem Freund Jay ist sehr hässlich geworden.« Er öffnete
den Deckel der silbernen Schatulle, der an der Unterseite wie mit Nebel beschlagen war. Dee rieb mit der Hand darüber, und ein Bild von Jay und Becky erschien, wie sie an meinem Küchentisch saßen – jedenfalls saß zumindest Jay, die knochigen Schultern bis zu den Ohren hochgezogen, das Haar vor dem Gesicht. Becky war schon halb aufgestanden, federte sich mit den Knien ab, als bereite sie sich zum Sprung auf Jay vor, und ihre Arme rotierten wie Windmühlenflügel. Das Bild lief ohne Ton, aber angesichts der Tatsache, dass Jay immer kleiner und kleiner wurde, konnte ich mir vorstellen, was für Dinge sie ihm entgegenschrie.
    Hören Sie auf!, rief ich. Sie sind es, die ihnen das antun! Sie haben sich noch nie zuvor so gestritten. Lassen Sie sie aufhören!
    »Soll ich?«, fragte Dee mit kehligem Glucksen. »Vielleicht haben Sie Recht. Sie wissen ja, wie sensibel Ihr Freund ist, vielleicht sogar selbstmordgefährdet. Soll ich sie aufhören lassen?« Er streckte den Zeigefinger aus und strich mit einer Bewegung, mit der man auch ein iPhone bediente, über Beckys Abbild auf dem silbernen Deckel. Sofort sank sie auf ihren Stuhl, ließ die Arme sinken, und alle Farbe wich aus ihrem Gesicht. Sie hatte noch nie zuvor so reglos ausgesehen.
    Dee berührte den Deckel erneut kurz über Beckys Herz, und sie öffnete den Mund und schnappte wie ein Fisch nach Luft.
    Nein! Ich schoss durch die Luft auf Dee zu, und noch im Flug gewannen meine Zellen an Masse. Dabei fühlte ich, wie Melusine mit mir kam, ein Wasserspritzer gegen mein wieder Gestalt annehmendes Fleisch, und dann fühlte
ich, wie sich ihre Scheren in meine Arme bohrten. Als wir Dee erreichten, hatten wir beide unsere körperliche Präsenz wiedergewonnen, aber er war nicht mehr da. Sein Körper löste sich in dem Augenblick auf, als wir gegen seinen Stuhl prallten … und dann war auch der Stuhl nicht mehr da. An seiner Stelle gähnte ein großes Loch im Boden, das uns einsaugte. Melusine und