Black Swan - Silberner Fluch
als ob ein gieriges Geschöpf meine Erinnerungen auffraß und aussaugte. Was würde danach noch übrig sein, nur noch eine hohle Schale? Ich
spürte, wie sich diese Augenblicke voneinander lösten, ähnlich wie kurz vor dem Einschlafen, wenn die Gedanken zufälliger und zusammenhangloser werden. Einer nach dem anderen trieb von mir weg …
Halte sie fest.
Die Stimme hallte durch das aufgewühlte Wasser zu mir herüber und rüttelte mich wach. Wie? , wollte ich fragen, aber Melusines Stimme war schon wieder weg. Ich fasste nach den Augenblicken, die hinweggewirbelt wurden – mein Vater, der mich an der Hand hielt, während wir an einem Regentag die breiten Marmorstufen zum Metropolitan Museum hinaufgingen, Jay, der eine Platte von Ella Fitzgerald aus ihrer abgewetzten Papphülle gleiten ließ, Beckys Haar, das im Wind flatterte … Jede dieser Erinnerungen packte ich, zerrte sie aus dem Sog und hielt sie fest, ich konzentrierte mich auf jedes Gesicht, das vorübertrieb – meine Mutter, Jay, Becky, mein Vater, Zach Reese, Santé Leone und schließlich, immer öfter auftauchend, Will Hughes. Es waren die einzelnen Stückchen, die ausmachten, wer ich war. Solange ich sie festhielt, würde ich mich nicht verlieren.
Endlich spuckte uns der stählerne Schlund wieder aus, und wir landeten in einem flachen See unter einer Stahlkuppel. Zitronengelbes Licht fiel durch ein offenes Rundfenster.
Seid ihr alle hier? , fragte Melusine.
Ja, antwortete ich, aber wer war ich? Wie konnte ich das wissen? Trieben noch Teile von mir in der Pipeline, die hinüber nach Brooklyn führte? Die Vorstellung, wie meine Moleküle gerade ein paar Geranien im Stadtteil Carroll Gardens wässerten und dann in den Gowanus
Canal flossen, wurde durch ein Zischen Melusines unterbrochen.
Und wenn? Glaubst du, ich hätte im Laufe der Jahrhunderte nicht auch immer wieder kleine Stückchen von mir abgeworfen? Du hast die wichtigen Teile festgehalten – darunter sogar einige, von denen du dir noch wünschen wirst, dass sie mit davongetrieben wären. Jetzt komm, wir müssssen nach oben steigen.
Wir trieben an die Oberfläche, auf der ein dreckiger, gelber Schaum lag, und dann verdampften wir. Die Luft war so feucht, dass wir schnell durch das Rundfenster emporstiegen und einen marmornen Raum erreichten, der wie das Innere einer Schneckenmuschel geformt war. Die Einrichtung hätte von Gianni Versace in seiner Miami-Beach-Phase in den 1990er-Jahren sein können. Die Böden waren mit dicken Perserteppichen ausgelegt, die Möbel aus kunstvoll geschnitztem Mahagoni gefertigt, überall standen antike Kunstgegenstände, griechische Amphoren und römische Bronzestatuen, und die Wände waren mit Gold ausgekleidet. An diesen goldenen Wänden hingen Gemälde, die ich als verlorene Meisterwerke erkannte: Leda mit dem Schwan von Leonardo da Vinci, Anbetung der Schäfer von Caravaggio, Das Konzert von Vermeer und Das Porträt des Dr. Gachet von Van Gogh. Inmitten all dieser Pracht bemerkte ich ein eher unauffälliges Porträt aus dem 18. Jahrhundert, das über dem Kaminsims hing. Es zeigte eine Frau, die nach der Regency-Mode gekleidet war. Ich schwebte zu dem Bild hinüber, sah ihr in die sanften, mandelförmigen Augen, aber ich konnte sie noch immer nicht einordnen.
»Sie ist eine Schönheit, nicht wahr?«
Die Stimme erschreckte mich so sehr, dass ich mich beinahe in eine Pfütze aus Kondenswasser auf dem Boden auflöste. Ich hatte sie erst ein einziges Mal gehört, und damals hatte er seine Macht verborgen. Als ich meine Aufmerksamkeit nun auf den Mann richtete, der unter mir saß, fühlte ich, wie jedes Quäntchen seiner Macht in der Luft um ihn leuchtete und eine Aura bildete, wie ich sie noch nie zuvor gesehen hatte. Sie hatte gezackte, scharfkantige Konturen und war außen von heller, durchscheinender Farbe, die weiter innen immer dunkler, ja fast schwarz wurde. Er trug dieselbe braune Strickjacke, aber diesmal täuschte sie nicht über seinen kräftigen Körperbau hinweg. So, wie er dort in dem Ohrensessel mit der hohen Lehne saß, schien er alle Kraft zu bündeln, um im Bedarfsfall sofort losschlagen zu können. Die Fingerspitzen der einen Hand ruhten mit ihren gelben Nägeln auf der Sessellehne wie eine langbeinige Spinne. In der anderen hielt er eine Zigarre, die er an die Lippen führte und rauchte. Dann blies er mir einen langen Rauchschwall entgegen, und ich spürte, wie die Ränder meiner Moleküle versengt wurden. Melusine pulsierte in der Luft
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