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Black Swan - Silberner Fluch

Titel: Black Swan - Silberner Fluch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: L Carroll
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ich wurden in ein Rohr gequetscht, in dem uns kaum noch Raum zum Atmen blieb. Melusine versuchte sich krampfhaft wieder zu entmaterialisieren, aber bevor ihr das gelungen wäre, wurden wir aus dem Rohr in eisiges Salzwasser gespült und wie eine Kloake in den East River gepumpt.

Deliqueszenz

    Nachdem ich so lange unter Wasser gewesen war, ohne atmen zu müssen, hoffte ich, dass das so bleiben würde, aber der Druck auf meiner Brust machte mir schnell das Gegenteil deutlich. Ich hatte nicht mehr lange Zeit, um an die Oberfläche zu kommen – dabei konnte ich sie nicht einmal sehen. Verzweifelt versuchte ich, mit kräftigen Schwimmzügen aufzusteigen, aber ich kam nur in eine Richtung voran, nach Südwesten. Der Ebbstrom hatte eingesetzt und zog mich ins Meer.
    Erfolglos kämpfte ich kurz gegen die Strömung an, dann gab ich es auf. Als ich noch klein war und wir oft Ausflüge an die Strände von Long Island machten, hatte mein Vater mir einmal gesagt, sollte ich je vom Sog einer Welle gepackt werden, dann sollte ich mich ohne Gegenwehr mitreißen lassen, denn die Welle würde mich schließlich wieder an den Strand werfen. Aber stimmte das auch bei einem Gezeitenstrom wie dem East River? Und was würde es mir nützen, wenn ich ertrank, bevor ich irgendwo in New Jersey an die Küste gespült würde? Allerdings gab es noch vorher Land: In der Mündung des Flusses,
gar nicht weit entfernt, lag Governors Island. Wenn ich mich von der Strömung tragen ließ, würde ich vielleicht überleben.
    Also konzentrierte ich mich darauf, meine Muskeln zu entspannen, ein Glied nach dem anderen – wie für die Shavasana, die Totenstellung, die uns mein Yoga-Lehrer am Ende einer jeden Stunde einnehmen ließ. Der Gedanke, dass ich vielleicht wirklich bald tot sein würde, war dem Entspannungsprozess jedoch nicht besonders förderlich, aber mir gelang es, mich von dieser Vorstellung zu lösen und mich auf jeden einzelnen Muskel zu konzentrieren. Stellt euch vor, ihr verschmelzt mit dem Boden¸ pflegte mein Yoga-Lehrer zu sagen, lasst eure Füße los, eure Waden, eure Schenkel …
    Etwas schrammte an meinem Bein vorbei.
    Ich zuckte zusammen und machte eine Rolle im Wasser, schlug panisch mit den Händen und fürchtete mich vor dem, was ich hinter mir entdecken würde; andererseits musste ich aber unbedingt wissen, was es war.
    Ein blasser, silberner Schatten tauchte aus der Düsternis auf.
    Ein Hai. Die Worte zuckten durch mein Nervensystem und lösten alle Urängste aus, die der Mensch vor dem tiefen Wasser empfindet. Doch als der Umriss näher kam, erkannte ich Arme und Beine und ein totes weißes Gesicht.
    Eine Leiche, dachte ich entsetzt. Dann sah ich die Kiemen und Scheren. Es war Melusine. Ich hatte gedacht, sie hätte sich wieder aufgelöst, aber offenbar hatte das Salzwasser sie betäubt, und sie war bewusstlos. Oder tot. Vermutlich gab es nichts mehr, was ich für sie tun konnte …

    Aber ich musste es versuchen. Während unsere Moleküle sich miteinander verbunden hatten, war mir dieses seltsame Geschöpf ans Herz gewachsen. Trotz ihrer offen zur Schau gestellten Bitterkeit – ihrem harten Chitinpanzer – trauerte sie noch immer um den Mann, der sie verraten hatte, und um die Kinder, die sie hatte im Stich lassen müssen. Jahrhundertelang war sie durch das Schloss von Lusignan gespukt, nur um einen kleinen Blick auf ihre Kindeskinder zu erhaschen, auch wenn diese jedes Mal entsetzt kreischten, wenn sie ihrer ansichtig wurden, bis sie schließlich in ein anderes Land geflohen war. Ich konnte sie nicht einfach in der verschmutzten Brühe des East River sterben lassen, sie, die in den reinsten Quellen geboren war.
    Und sie lag im Sterben. Das fühlte ich. Schlimmer noch, sie war in Auflösung begriffen. Ihre perlenschimmernde Haut schälte sich ab und hinterließ eine Spur phosphoreszierender Teilchen wie ein Kometenschweif. Als sie an mir vorübertrieb, die Augen weit geöffnet und blicklos starrend, packte ich ihren Arm. Ihre Haut gab nach und rutschte ölig unter meinen Fingern weg. Ich hatte Angst, ihr Arm würde sich durch meinen Griff ganz lösen, aber das geschah nicht. Also zog ich sie näher zu mir, damit ich ihr meinen rechten Arm über den Kopf schlingen und sie im Rettungsschwimmergriff festhalten konnte. Ihr Körper war leicht, wie eine bloße Hülle, die von seinem mollusken Bewohner verlassen worden war. Darüber versuchte ich jedoch nicht nachzudenken, als die Strömung uns weiter mit sich riss, aber mich

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