Black Swan - Silberner Fluch
erkannte die Lilatöne, das Hellviolett und Honiggelb sofort. Sie gehörten zu Pissarros französischen Schneelandschaften.
»Das wurde von einem unserer Bilder abgerissen«, sagte ich. »Da bin ich mir ganz sicher. Wenn Sie die Gemälde untersuchen, werden Sie sehen, wo diese Ecke fehlt.«
Kiernan schob den Fetzen in eine kleine Plastiktüte und fragte dann den Hausbesitzer nach seinem Ladenpächter. Das Geschäft sei nur drei Wochen zuvor von einem gewissen John Black angemietet worden, erfuhr er, und die fällige Pacht sei bereits bis zum Jahresende bezahlt. Die einzige andere Adresse, die Lochan Singh von John Black hatte, war ein Postfach in Astoria. Ein paar Minuten verfolgte ich das Gespräch, doch dann fiel mir auf, dass Will Hughes verschwunden war.
Beunruhigt eilte ich nach draußen und fürchtete schon, er habe sich wieder so abrupt davongemacht wie heute Morgen, doch er lehnte am Geländer am Fuß der kleinen Treppe und sah auf den Fluss. Eine Nebelbank braute sich am Ende der Straße zusammen und verdeckte den Blick auf den West Side Highway und das Wasser dahinter.
»Was glaubst du, wo er ist?«, fragte ich.
Er schüttelte den Kopf. »Irgendwo auf dem Fluss vielleicht. Oder in den Kanälen oder auf dem Meer. Er nutzt die Wasserwege, um seine Seuche zu verbreiten.« Nun wandte er sich um und sah mich an. »Wieso hast du nicht auf Oberon gehört, als er dir befahl, dich von mir fernzuhalten?«
Natürlich hätte ich darauf erwidern können, dass Will es gewesen war, der vor meiner Tür erschienen war, und
nicht etwa ich ihn aufgesucht hatte, aber ich wusste, dass das keine Rolle spielte. Ich war glücklich, dass er gekommen war – nein, mehr als das. Ich war erleichtert . Wäre er nicht aufgetaucht, hätte ich nach ihm gesucht. »Oberon weiß auch nicht alles«, antwortete ich und hatte das Gefühl, ihn zu verraten, als ich merkte, wie verdrießlich ich klang. »Oh, aber er hat mir das hier beigebracht …« Nachdem ich mich versichert hatte, dass niemand uns beobachtete, schnippte ich mit den Fingern. Ein Funken flog von meinem Daumen auf und manifestierte sich zu einer Flamme.
Will lachte über den Spaß, den mir mein neuer Trick offensichtlich bereitete, dann nahm er meine Hände und blies sanft in die Flamme. Sie ging nicht aus, sondern flackerte auf; dann spürte ich eine warme Woge, die vom Kopf bis zu den Zehen durch meinen Körper flutete. Die Flamme tanzte und schwoll an, dann hob sie sich von meiner Hand und schoss in den Himmel wie eine Silvesterrakete.
»Hey, du Angeber! Wie hast du das gemacht?«
»Das werde ich dir zeigen, aber du musst mir erst etwas versprechen. Wenn du jemals in Schwierigkeiten sein solltest, musst du einen solchen Feuerball in den Himmel schicken, um mir Bescheid zu geben.«
»Klar«, sagte ich. »Also, wie hast du das gemacht?«
»Das ist ganz leicht«, erklärte er. »Du musst nur die Lippen aufeinanderlegen und pusten.« Er zog meine Hand an seinen Mund und drückte die Lippen darauf. Seine Fangzähne schrammten leicht über meine Knöchel. »Ich muss gehen. Die Börsen in Asien öffnen bald. Aber vergiss nicht … wenn du mich brauchst …« Er ließ meine
Hand los. Bevor ich noch etwas sagen konnte, verschwand er in seinem Wagen. Der Silver Cloud wurde von der Nebelbank am Ende der Straße verschluckt, noch bevor die Wärme seiner Lippen von meiner Hand verflogen war. Und ich fragte mich, woher diese Wärme überhaupt stammte.
Nachtflug
Als wir nach Hause kamen, war ich froh, dass Becky noch zu ihrem Konzert musste. Jay und Fiona warteten schon auf der Eingangstreppe auf sie, in ihre dicken Mäntel eingemummelt, und in Fionas Honda City stapelte sich bereits bis unter das Dach das Equipment der Band. Fiona umarmte mich innig, und ihr struppiges, schulterlanges Haar strich über mein Gesicht. Diese Woche war es hellrot, dabei war es das letzte Mal, dass wir uns begegnet waren, noch blauschwarz gewesen. Offenbar hatte sie es so gefärbt, dass es zu ihrem Webpelzmantel und den übers Knie reichenden Schaftstiefeln passte.
»Tut mir so leid, was bei euch passiert ist, Garet«, sagte sie mit ihrem weichen irischen Akzent. Sie war als Austauschstudentin für ein Semester ans Pratt Institute gekommen und dann in New York geblieben, als London Dispersion Force allmählich in der Musikszene Fuß fassten. »Ich war heute kurz im Krankenhaus und habe deinen Dad besucht. Er war guter Laune und erzählte ganz begeistert von einem Maler, der ihn besucht
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