Blackbirds
versuche, vorsichtig zu sein. Der Schnitt auf der Wange sollte eigentlich genäht werden. Er ist nicht lang, aber tief.«
»Keine Nähte. An mich kommt nur Pflaster ran.«
»Vielleicht wird das eine Narbe.«
Sie winkt ab. »Narben sind sexy.«
»Ich bin froh, dass du zurückgekommen bist.«
»Ich hätte gar nicht erst gehen sollen.«
Mit den Zähnen dreht Louis eine Tube antibiotische Salbe auf, drückt ein kirschkerngroßes Stück auf seinen breiten Finger und verteilt es auf der Stirn und dann der Wange. Sie genießt die Berührung. Sie ist einfach und vertraulich. Sie versetzt Miriam in eine Art Zen-Status, eine Gedankenlosigkeit, die sie begrüßt.
Doch die Gedankenlosigkeit überwältigt sie nicht. Nicht so leicht.
Er wird sterben , erinnert sie eine lästige Stimme.
Sie holt tief Luft und sagt der Stimme dann: Ich weiß.
Und es ist wahr. Sie weiß es. Das ist wie eine irre Achterbahnfahrt , denkt sie.
Jeder ist für die Fahrt fest angeschnallt, und es gibt keine Möglichkeit, vorher auszusteigen. Die Berge und Täler, die Haarnadelkurven und die langen Strecken. Die Schreie, der Rausch. Der Schrecken. Die Endgültigkeit, mit der das Ende schließlich langsam herankommt. Wie die Fahrt aussieht,welche Kurven sie nimmt, entscheidet das Schicksal. Das Schicksal mischt sich überall ein.
Aber, denkt sie, vielleicht gibt es ja etwas, was das Schicksal nicht antasten kann. Vielleicht ist nicht von vornherein entschieden, wie man über die Dinge denkt oder – noch wichtiger – was man bei Dingen empfindet. Vielleicht kontrolliert das Schicksal nicht, wie leicht man seinen Frieden findet. Sie hofft, dass es so ist. Denn sie will ein kleines bisschen Frieden finden.
In weniger als zwei Wochen wird Louis in einem Leuchtturm sterben.
Das kann sie nicht verhindern. Das ist der Punkt, wo er aus dem Wagen der Achterbahn aussteigt.
Vielleicht, denkt sie, ist das auch der Punkt, an dem sie aussteigt. Denn die Wahrheit ist, sie weiß nicht, welche Pläne das Schicksal für sie hat. Dieses Pokerblatt im Spiel des Lebens kennt sie nicht. Miriam kann andere berühren und sehen, wie sie sterben, aber dasselbe gilt nicht für sie – ihr Ableben bleibt ein Geheimnis. Und so wird es auch bleiben, bis sie diesem Ende ins Auge blickt, wie es scheint. Sie stellt sich gern vor, dass es ein gewaltsamer Tod sein wird. Aber jetzt, bei Louis’ Berührung, denkt sie – oder so hofft sie zumindest –, es sei vielleicht anders.
»Ich möchte dich um einen Gefallen bitten«, sagt sie.
»Zu fest?
»Nein, genau richtig. – Du verlässt die Stadt bald.«
»Für eine Fahrt, ja.«
»Nimm mich mit.«
Überrascht zieht er die Hand weg.
»Du willst mit mir kommen?«
Sie nickt. »Ich mag dich. Ich will weg von all dem hier. Außerdem könnte ich in Gefahr sein. Der Freund. Der Bruder. Wer weiß? Du bist sicher. Ich mag sicher.«
Louis lächelt, als sie lügt.
»Wir fahren morgen früh los«, sagt er.
Sie küsst ihn aufs Kinn. Sich so zu bewegen tut ihrem ganzen Gesicht weh.
Es sind Schmerzen, die sie erträgt.
TEIL DREI
VIERUNDZWANZIG
Hier stirbt Randy Hawkins
Niemand weiß, wer Randy Hawkins ist, denn er ist ganz sicher ein Niemand.
Gewiss ist er kein attraktiver Mann: Schweinsnase, lockige rote Haare, eine Jeansjacke, die vielleicht vor zwei Jahrzehnten modern war. Er hat die Schuhe noch an, aber würde man seine Füße sehen, würde einem auffallen, dass sie zur Nase passen: Schweinshufe. Sie sehen ganz und gar wie Schweinshufe aus.
Sein Job ist nichts Besonderes. Zurzeit steht er hinter der Fleischtheke im Giant-Supermarkt, aber das ist ein ziemlich neues Engagement. Sein letzter Job war Tankwart, und der Job davor war Tankwart für eine andere Tankstelle. Irgendwann einmal hat er gedacht, er könnte Rockschlagzeuger werden, aber schließlich bekam er heraus, dass es dafür echt hilfreich ist, ein Schlagzeug zu haben und zu wissen, wie man darauf spielt.
Vielleicht liegt es an seinem Charakter. Ungeachtet seiner Gewohnheiten ist er sanft. Und still. In seinem eigenen Kopf ist er alles andere als langweilig, aber für alle anderen ist er so öd wie Grundierfarbe.
Wäre er ein Bagel, dann wäre er einer ohne alles.
Was ist es also, das Randy Hawkins zu jemand Besonderem macht? So besonders, dass man ihn an den Händen in einem Kühlraum aufgehängt hat, wo er neben kalten Rinderhälften baumelt?
Es sind zwei Dinge.
Zum einen liegt es an einer jener eben erwähnten ›Gewohnheiten‹.
Zum andern liegt es
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