Blackbirds
Verfolger ist ihr dicht auf den Fersen; es kann nicht wahr sein, aber Miriam bildet sich ein, Atem im Nacken spüren zu können, Hände, die nach der Luft direkt hinter ihren Absätzen schnappen, Zähne, die in das Fleisch ihrer Schulter beißen.
Es ist Harriet , denkt sie. Es ist diese entsetzliche Frau. Ich bin erledigt!
Aber dann verstummt das Geräusch. Es ist weg. Als hätte es nie existiert.
Was viel unheimlicher ist und sehr viel beunruhigender.
Miriam bleibt stehen. Wartet. Blickt sich um. Alles ist wieder Schemen und Schatten – keine Bewegung, kein Laut außer Blättern an Blättern.
Hat sie es sich eingebildet?
War es irgendeine Art von Wachtraum?
Sie riecht Seife. Bloß ein Hauch. Handseife, wie Seife aus einem Badezimmer.
Miriam dreht sich um.
Eine rote Schneeschippe erwischt sie im Gesicht. Als sie auf den Boden fällt, hört sie das Gelächter von Louis, das zum Gelächter von Ben Hodges wird, das zum Gelächter ihrer Mutter wird – alle über ihrem Kopf, ein Kreis von gackernden Mondgesichtern.
Die Dunkelheit kehrt zurück und singt ihr Grillenlied.
Frankie kommt von hinten um die Ecke des Motels getapst; er hält den Unterarm an eine kaputte, blutige Nase. Das Blut läuft ihm am Kinn, am Arm herunter.
Er sieht Harriet auf der Frontstoßstange ihres Oldsmobile sitzen; ihre dunklen Hosen werden von einem Oval von Blut noch dunkler gemacht. Das Butterflymesser liegt in ihrer Hand, glitschig und rot.
»Der Scheißkerl hat mir ins Gesicht geschlagen«, sagt Frankie, obwohl es sich mehr anhört wie ›Ber Scheifkerl hat mir ins Gewicht geschlan‹.
»Mit dem Koffer, nehme ich an.«
»Ber Koffer is verdamp schwer.«
»Das Mädchen ist entkommen. Sie hat mir ins Bein gestochen mit diesem ... Flohmarktmesser.«
»Verbammte Scheife.«
»Ich werde Ingersoll anrufen. Er wird herkommen wollen. Er wird der Sache persönlich beiwohnen wollen.«
»Verbabbtete Scheife!«
»Gehen wir, bevor die Polizei kommt.«
ZWISCHENSPIEL
Der Traum
Sie weiß, es ist nur ein Traum. Das macht es nicht besser. Oder einfacher.
Louis hängt an einer abgestorbenen Eiche wie Jesus am Kreuz. Er wird von einem einzelnen Mondstrahl beleuchtet, der wie Gottes persönlicher Scheinwerfer auf der Bühne aussieht. Seine ausgestreckten Arme bieten einer Reihe von Krähen und Amseln Platz. Eine Amsel – eine kleine mit einem roten Tupfer vorn am Flügel, der wie ein Blutstropfen aussieht – hüpft herüber und klammert sich an seinem Schlüsselbein fest. Sie pickt an dem Isolierband herum, das auf sein linkes Auge gedrückt ist.
Miriam steht zu seinen Füßen und blickt auf. Sie fällt auf die Knie. Sie will es nicht; es ist das, was der Traum von ihr verlangt. Es ist, als hätte sie die Kontrolle verloren.
»Ich sterbe für deine Sünden«, sagt Louis. Zwischen den Wörtern ist heiseres Kichern zu hören.
»Du bist noch nicht tot!«, protestiert sie.
Er ignoriert ihren Kommentar.
»Das Kreuz. Die Krux. Die waagrechte Linie ist die Linie des Menschen. Sie ist die diesseitige Welt, die Welt von Materie und Fleisch und Erde. Schlamm, Blut, Stein und Knochen. Die senkrechte Linie ist die göttliche Linie. Der Aszendent. Sie verläuft lotrecht zur Welt der Menschen und ist die Achse des Jenseitigen und Unerkennbaren.«
»Das ist super. Ich will jetzt aufwachen.«
»Augenblick noch. Ich bin noch nicht fertig mit dir, kleine Lady. Das Symbol des Kreuzes steht auch für den Scheideweg. Eine Verbindungsstelle von Optionen. Entscheidungen, Entscheidungen. Es ist Zeit, dass du die eine oder andere Wahl triffst, Miriam. Hau rein, Hein! Schwing die Muschi, Uschi!«
Louis grinst. Regenwürmer winden sich zwischen seinen verfaulten Zähnen.
»Jetzt weiß ich, dass du nur eine Manifestation meiner eigenen Stimme bist!«, sagt sie und lacht fast. »Keine göttliche Gestalt, kein zukünftiger Geist würde ›Schwing die Muschi, Uschi!‹ sagen!«
Selbst gekreuzigt gelingt es Louis, mit den Schultern zu zucken. »Wenn du das sagst. Wie kommt es dann, dass ich so viel über Kreuze weiß? Hast du einen Kurs in vergleichender Religionswissenschaft belegt, den ich verpasst habe?«
»Fahr zur Hölle!«
»Entscheidungen, Miriam, Entscheidungen.«
»Ich treffe keine Entscheidungen. Ich bin eine Marionette der Vorsehung.«
»Vergiss nicht: Beim Kreuz – der Krux, dem Scheideweg – geht es um Opfer. Jesus steht am Scheideweg, und er wählt nicht die waagrechte Linie des Menschen, sondern die senkrechte Linie Gottes.«
»Das
Weitere Kostenlose Bücher