Blackhearts: Roman (German Edition)
am Maschendraht hochzuklettern. Die Jacke schützt sie vor dem Biss der Drahtklingen, als sie sich hinüberschwingt, auf Händen und Knien landet sie im Schlamm.
Sie versucht, ihre Jacke mitzureißen, aber sie hängt da oben fest. Scheiße.
Keine Zeit, sich jetzt darüber den Kopf zu zerbrechen.
Miriam geht los, das Adrenalin bewegt ihre Beine wie ein Puppenspieler. Galle und Hunger machen ihre Magengrube sauer. Der schlammige Weg saugt an ihren Stiefeln.
Die Raben verfolgen ihr Fortkommen und hüpfen von Baum zu Baum. Stumme schwarze Formen hinter dem Regenvorhang.
Sobald sie die Biegung umrundet, sieht sie, wo Keener wohnt.
Es ist ein Schrottplatz. Kein Schrottplatz, wo die Leute hingehen, der von jemandem betrieben wird. Nein, das hier ist eine Müllkippe. Weite Flächen wertlosen Abfalls und Schutts. Ein ausrangierter Oldsmobile. Ein Haufen Fracht- und Müllcontainer. Pflugscharen, Blechplatten, Motoren und Maschinen mit unbekannter Funktion.
Ein Schulbus. Ein langer Schulbus – kein Typ-A – steht verrostet inmitten des Durcheinanders. Nicht weit davon entfernt ist ein kleines weißes Haus, an dessen Gipsputz schwarzer Schimmel hochwächst wie ein Schandfleck, der aus der Hölle selbst gekrochen kommt.
Während Miriam es betrachtet, rühren sich die Raben in den Bäumen. Sie fangen an, alarmiert zu gackern und zu krächzen, dann fliegen alle sieben in den Regen auf –
Miriam hört das Geräusch von Reifen im Schlamm.
Schnell huscht sie weiter in den Schrottplatz hinein und duckt sich hinter einen Frachtcontainer mit korrodierten und teilweise eingestürzten Wänden.
Ein gelber, kurzer Bus – ein Typ-A, wie die, in denen man Touristen und alte Leute herumfährt – hält an.
Das Licht der gleißenden Scheinwerfer funkelt im Regen, der wie Messerhiebe niedergeht.
Für eine Weile bleibt es dabei. Miriam kann nicht sehen, wer in dem Bus sitzt. Alles, was sie erkennen kann, ist ein Umriss.
Schließlich verlöschen die Scheinwerfer und der Fahrer stellt den Motor ab.
Endlich erhält sie einen ersten Blick auf den Killer ohne seine Maske.
Keener ist groß. Arme wie Schiffstaue, wie in ihrer Vision. Außerdem ist er älter – Ende fünfzig, Anfang sechzig. Ein hochgewachsener, gebückter Körper. Schultern nach obengezogen, Kopf und spitzes Kinn nach unten gerichtet. Sogar von hier aus kann sie sehen, dass er dunkle Augen hat und eine Nase, die – einmal gebrochen und nie gerichtet – nach links abknickt, als würde sie ständig gegen eine Glasscheibe gedrückt.
Plötzlich stockt ihr der Atem.
Oh nein, oh nein, oh nein!
Er hat ihre Jacke.
Sie hört einen weiteren Reifensatz. Ein Polizeiauto – Staatspolizei – schiebt sich hinter den Schulbus.
Ein krasser Albtraum läuft in ihrem Kopf ab: Die Polizei nimmt Keener fest, bringt ihn fort, und dann ist er verschwunden, außerhalb ihrer Reichweite, weggesperrt in Gerichtsgebäuden und Gefängnissen, wo Miriam nicht an ihn rankommt – dann wird er rechtzeitig wieder freigelassen, um zu morden, und niemand kann ihn aufhalten. Das Schicksal bringt seine Schachfiguren in die richtige Position. Um sicherzustellen, dass das, was passieren muss, auch passiert.
Der Cop steigt aus seinem Wagen, und es hat den Anschein, als würde Keener ihn erwarten. Der Cop hat einen schwarzen Regenschirm, aber Keener – nun, der Regen scheint ihn nicht zu stören.
Keener gibt ihm die Jacke.
Der Cop ist ein Bulldoggentyp. Klein, untersetzt, das vorgereckte Kinn seines Unterbisses von einem dunklen Hufeisenschnurrbart eher betont als verborgen.
Sie kann nicht hören, was sie sagen. Aber sie drehen sich beide zum Schrottplatz hin. Als würden sie nach jemandem suchen. Jemandem wie sie.
Miriam zieht den Kopf wieder hinter den Container zurück. Hält den Atem an und schließt die Augen fest, als ob das irgendwas nützen würde.
Sie lauscht dem Regen, dem Gemurmel von Stimmen,dem tiefen Brummen des Polizeiautos im Leerlauf und dem Donner, der sich über den Himmel bewegt.
Dann: Reifen auf Schlamm.
Wer ist das denn jetzt?
Allmählich entwickelt sich das hier ja regelrecht zu einer Party!
Aber als sie die Augen wieder aufmacht und hinüberspäht, sieht sie, dass niemand kommt, sondern vielmehr jemand geht. Der Cop wendet und fährt zurück nach draußen auf die Straße, verschwindet hinter den Bäumen. Miriam weiß nicht so recht, ob sie enttäuscht oder erleichtert sein soll, dass er weg ist.
Schließlich hatte der Cop nach ihr gesucht, oder?
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