Blackhearts: Roman (German Edition)
Widerhallend.
Gegenüber von Miriam steht ein weiterer Frachtcontainer: in Grasgrün mit einem Unternehmenslogo, das Mutter Natur und Vater Zeit längst weggescheuert haben. Der Container ist länger als der andere, bestimmt sieben oder acht Meter.
Die Stimme kommt aus dem Innern des Containers.
Er hält die Mädchen in diesen Dingern fest .
Das ergibt Sinn. Auf eine kranke, beschissene Weise. Er versteckt sie vor der Welt, außerhalb seines Hauses. Aber manchmal holt er sie herein, um die schmutzige Arbeit zu verrichten, nicht wahr? Oder ändert er seine Vorgehensweise immer wieder? Wird er sie vielleicht erst in den kommenden Jahren ändern?
Keine Zeit, sich jetzt darüber Gedanken zu machen.
Miriam flitzt zum Container und legt das Ohr an die Wand. Sie tippt nur mit dem Zeigefinger dagegen – leise genug, um keine Aufmerksamkeit zu erregen, aber laut genug, damit jeder im Innern erkennt, dass es mehr als nur der fallende Regen ist.
Sie presst das Ohr gegen das kalte Metall, hört wieder die Stimme: »Wer ist da? Beeilen Sie sich! Bevor er zurückkommt!«
Miriam huscht zur Vorderseite des Containers und stellt fest, dass er offen ist. Im Innern ist es dunkel, aber sie kann das Mädchen erkennen – noch gerade so, ein Umriss, zusammengeschrumpft im Hintergrund, als ob es dort angekettet wäre.
»Ich bin hier!«, sagt Miriam. »Ich werde dir helfen!«
Einen Schritt nach dem andern schleicht sie in den dunklen Container.
»Bitte!«, sagt das Mädchen. Es schnieft und wimmert.
»Ich komme!«
»Retten Sie mich!«, flüstert es. »Retten Sie mich!«
Und dann ist das Mädchen aufgerichtet. Bewegt sich schnell auf Miriam zu: ein weißer Umriss in schwarzem Schatten, dröhnende Schritte, bumm bumm bumm –
In diesem Moment sieht Miriam es.
Das ist nicht das Mädchen. Nicht einmal ein Mädchen.
Das ist er.
Keener.
Es bleibt keine Zeit wegzurennen – sie würde nur ausrutschen, hinfallen, und er würde schnell über ihr sein. Stattdessen weicht sie nicht von der Stelle, drückt den Knopf an ihrem Messer, sodass die Klinge herausspringt –
Aber Keener ist schnell.
Und er hat auch eine Waffe.
Ein Kantholz, knapp vier Zentimeter dick, voller Splitter. Wohl aus dem Müllcontainer mit dem Holzabfall.
Sie schreit, stößt mit dem Messer zu –
– fühlt, wie es in Fleisch sinkt –
– er heult auf, während das Holz sie seitlich am Kopf erwischt.
Miriam geht zu Boden, das Gesicht nach oben. Ihr Messer ist weg – es steckt noch in Keener. Sie sieht Sterne und Schneeflocken tanzen, dreht sich herum auf Hände und Knie, krabbelt vorwärts.
Sie hört ihn grunzen.
Hört ihr Messer klirrend auf den Boden des Containers fallen.
Sie kriecht in den Regen hinaus. Kommt wieder auf die Beine und macht Anstalten, loszurennen –
Aber eine Hand mit starken, spinnenartigen Fingern packt sie an der Ferse und zieht. Ihr Bein streckt sich und sie fällt hin, mit der Brust nach unten, in den Schlamm.
»Helfen Sie mir!«, sagt Keener, indem er mit unheimlicher Präzision die Stimme eines Mädchens imitiert; er ist keine Schwalbe, sondern eine Spottdrossel. Aber dann fällt er in seine eigene Stimmlage zurück, eine knurrende Sprechweise, die aus dem mädchenhaften Flehen auftaucht. »Du bist eine Unbefugte!«
Unbefugter , denkt sie. Hilf mir!
Das Kantholz trifft sie am Hinterkopf.
Und dann ist da nur noch Schlamm und Regen – und nichts.
ZWISCHENSPIEL
Das Pfefferkuchenhaus
Peng!
Ihre Mutter lässt einen Pappkarton auf den Boden vor ihr fallen. CD -Hüllen klappern darin – Social Distortion, Smashing Pumpkins, Nine Inch Nails. Auf den CDs: diverse Comics. Von oben starrt Batman sie an, Killer Croc im Schwitzkasten. Darunter erhascht sie einen flüchtigen Blick auf Jean Grey von den X-Men. Miriam überfliegt die Einbände von Taschenbüchern, die sie sich in dem Antiquariat unten in Sunbury besorgt hat: Poppy Brite, Stephen King, Robert McCammon, Fänger im Roggen, Schlachthof 5 .
»Das ist Schund!«, schreit ihre Mutter. Die Hände zu Fäusten geballt, während sie mit den Zähnen ein Karamellbonbon bearbeitet, es klappernd von Backenzahn zu Backenzahn wandern lässt. Sie isst eigentlich nur Süßigkeiten, wenn sie aufgewühlt ist.
Miriam weiß nicht, was sie sagen soll. Sie kann nur schwer schlucken und fragen: »Wie hast du sie gefunden?«
»Das schlaueste Mädchen im Raum ist nie dasjenige, das sich für das schlaueste Mädchen im Raum hält«, sagt ihre Mutter. »Hast wohl gedacht, du
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