Blackhearts: Roman (German Edition)
Visionen mit ihrem Geruchssinn, manchmal nicht. Es gibt keine Regeln. Es kann sein, dass sie dreissig Sekunden des Lebens einer Person sieht oder dass es fünf Minuten sind. Sie bekommt, was immer die Vision ihr gibt.
Was immer die krähenköpfigen Ungeheuer und Geister in ihrem Kopf zulassen.
Aber in diesem Moment schlägt ihr diese olfaktorische Erinnerung mitten ins Gesicht.
Sie schluckt die Magensäure wieder hinunter und beruhigt sich so weit, dass sie eine Frage stellen kann.
»Was …« Nicht kotzen, nicht kotzen . »Was ist das für ein Geruch?«
»Hä?«, fragt der Taxifahrer, offenbar von der Straße hypnotisiert.
»Der Gestank. Der gottverdammte … dieser chemische Geruch.«
»Ach der? Mensch, ja, den riech ich eigentlich schon gar nich’ mehr. Manchmal schwappt er über die Stadt hinweg und ich krieg’ eine ordentliche Ladung ab, aber meistens blend’ ich ihn einfach aus, versteh’n Sie?«
Sie brummt: »Man kann einen Geruch nicht ausblenden, ausblenden kann man einen – ach, vergessen Sie’s. Also, was zum Teufel ist das?«
»Die Sus-Q-Farbenfabrik.« Sus-Q für den Susquehanna. »Die machen Pigmente, Farben und so ’n Zeugs.«
Er wohnt also in der Nähe davon – Carl Keener wohnt irgendwo in der Nähe der Sus-Q-Farbenfabrik. So muss es sein. Miriam spürt es, als würde ein Messer an ihrem Halsansatz kratzen.
»Planänderung! Fahren Sie zu der Fabrik!«
»Aber die ist im Norden, und Sie wollten nach Westen, nach New Berlin.«
»Ja, das weiß ich. Deshalb wird es auch Planänderung genannt. Tun Sie einfach, worum ich Sie bitte, o. k.? Gottverdammt noch mal!«
Sie hat jetzt das Gefühl, ganz nah dran zu sein.
Sämtliche Zellen in ihrem Körper beben wie Mückenflügel.
NEUNUNDDREISSIG
Das Gelände
»Hier ist es!«, ruft Miriam und schlägt dem Taxifahrer hart auf die Schulter. »Fahren Sie hier ran!«
Die Reifen des Taxis radieren über den kaputten Erdboden des Seitenstreifens.
Regen läuft am Taxifenster herab und verzerrt ihre Sicht.
Trotzdem, weiß sie, was sie sieht.
Das muss es sein!
Ein unbefestigter Zufahrtsweg zweigt von der Straße ab. Ein Maschendrahtzaun und ein entsprechendes Tor verhindern, dass jemand hereinkommt. Das obere Ende des Zauns ist mit groben Windungen rostigen Stacheldrahts gekrönt.
In die Erde gesteckt und an den Zaun gedrahtet sind Schilder: Sperrholzstücke oder Metallschrott, die Botschaften aufgesprüht mit tropfenden, uneinheitlichen Schriftzügen – manche Buchstaben groß, andere klein. Alle verrückt.
Kein Jagen!
Nr. eins Gott sieht zu!
LÜGNER GOTT KENNT
Gibt es ein Leben nach dem Tod?
Eindringlinge findet es raus
STOP ODER LEIDE
Nicht über diesen Zaun hinausgehen
Und selbstverständlich:
Zutritt für Unbefugte verboten
Für Unbefugte verboten. Miriam kommt das bekannt vor.
Und schließlich der springende Punkt, das entscheidende Argument, das Ave-Maria-Preiset-den-Herrn: sieben Raben. Einige hocken auf Schildern, andere oben auf dem Tor.
Raben, die sie beobachten.
»Hier!«, sagt Miriam und wirft dem Taxifahrer den Rest ihres Geldes über den Sitz zu, dann steigt sie aus. Als die Tür sich öffnet, kommt Unruhe in die Vögel, sie fliegen auf in die umliegenden Bäume und lassen sich auf den Ästen nieder.
Donner grollt über ihr, während das Taxi eine Kehrtwende auf der Straße macht.
Und dann ist es fort. Miriam ist allein.
Der Chemiegestank hängt in der Luft.
Von hier aus kann sie nicht viel erkennen. Hinter demTor ist bloß noch mehr Schotterpiste: Schotter, der inzwischen zu Schlamm aufgewühlt ist, ein Weg, der kurvig in den Wald führt. Auf verschrobene Weise erinnert sie das an die Caldecott-Schule. Statt des Schulwappens gibt es hier irre Warnschilder. Statt der mit bourbonischen Lilien bewehrten Eisentore steht hier ein windschiefer Maschendrahtzaun mit NATO -Stacheldraht oben drauf.
Der Stacheldraht, fällt ihr auf, neigt sich nach innen. Nicht nach außen.
Es ist nicht so, dass er nicht will, dass Leute reinkommen. Er will nicht, dass sie entkommen.
Caldecott ist ein Ort, an den Mädchen wegen einer zweiten Chance kommen. Um zu lernen und zu wachsen.
Aber hier …
Dies ist ein Ort, an den Mädchen kommen, um dieser Chance beraubt zu werden.
Um zu leiden und zu sterben.
Vielleicht ist in diesem Moment ein Mädchen da drin. Tot oder im Sterben liegend.
Was du heute kannst besorgen, das verschiebe nicht auf morgen. Miriam wirft ihre Jacke über die Drahtrolle und fängt an, wie ein Affe
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