Blackhearts: Roman (German Edition)
schlägt ein und –
… die Vision spult sich schnell ab.
Missy hat abgenommen. Sie ist nicht mehr länger das pummelige Mädchen mit der Karl-Malden-Nase, sie ist schmaler geworden und liegt lang ausgestreckt auf dem antiken Doktortisch.
Das Lied beginnt: »Am Freitagmorgen ward Polly krank …«
Ausgebrannte Mauern.
Der Mann mit der Schwalbentätowierung und der Pestmaske.
Begräbnisblumen schwelen, der Rauch steigt durch Nasenlöcher auf.
Der Spottdrossel-Killer singt.
Missy sträubt sich, schreit, Zähne werden zerkratzt vom Stacheldraht, Rostflocken schneien auf ihre trockene Zunge.
Die Axt hebt sich.
D ie Axt fällt.
Ihr Kopf löst sich nicht komplett. Die Wirbelsäule ist durchtrennt, aber das restliche Fleisch muss mit der Drahtschere abgeschnitten werden.
Die Zunge kommt heraus. Schnipp, schnapp.
Das Lied endet.
Die Spottdrossel lacht. Tirili, tirili, träller, tirili.
– Miriam vollzieht einen weiteren Hüftcheck mit der Kommode, als sie sich von Missy löst. Ihre Hand glüht vor Schmerzen, die von dem eingeritzten X kommen, und dann ist da der tiefer sitzende, gruseligere Schmerz – das Wissen, dass all das noch nicht vorbei ist, dass Keener nicht tot ist, dass die Spottdrossel lebt und weitere Mädchen sterben werden. Und in diesem Moment sieht sie den gespenstischen Schädel vor den Gesichtern beider Mädchen, bevor die Projektionen sich in Nichts auflösen.
»Oh Scheiße, Scheiße, Scheiße !«, murmelt Miriam, hält beide Fäuste vors Gesicht und beißt sich so fest in die Knöchel, dass sie glaubt, sie könnten anfangen zu bluten.
Wieso?
Wieso?
Carl Keener. Ist er denn nicht tot? Sie hat ihn doch umgebracht. Sie hat ihn nicht einfach umgebracht – sie hat seinen Hals in ein Matschloch verwandelt! Seine Leiche wurde kalt, während sie auf Louis wartete, während Annie Valentine zitternd auf dem Doktortisch saß, den Draht vom Gesicht gezogen, die Lederriemen von Händen und Füßen entfernt.
Und dennoch, da wartet er. In der Zukunft.
Wiedergeboren.
Wie konnte Keener wieder lebendig werden?
Auf einmal ist nichts mehr sicher. Alles dreht sich wie ein Kreisel.
Miriams eigenes Leben ist nie bombenfest gewesen, nieein massiver Fels in der Brandung, aber das eine, worauf sie sich verlassen konnte, war die Wahrheit ihrer Visionen. Und nachdem sie Louis gerettet hatte, dachte sie, dass sie auch andere retten könnte.
Hat sie sich geirrt? War das eine einmalige Sache?
Das Schicksal, so scheint es, hat ihre Tricks durchschaut. Es hat gehandelt und setzt sich gegen sie zur Wehr.
Da ist sie, die Stimme ihrer Mutter: Es ist, wie es ist.
»Ich habe dich nicht gerettet!«, sagt Miriam zu Wren, beinahe atemlos.
»Die ist tatsächlich irre«, murmelt Missy.
Wren boxt dem andern Mädchen auf den Arm. »Miriam, wovon redest du?«
»Ich habe gar nichts aufgehalten! Du stirbst immer noch. Ich habe Carl Keener getötet – ich habe ihn verdammt noch mal in echt getötet – aber trotzdem bringt er dich um. Und ich weiß nicht, wieso!«
Annie Valentine mit einer Kugel im Kopf.
Das Feuer, das alles niederbrennt.
Auf einmal trifft es sie wie ein Schlag: In all ihren Visionen waren das Haus und der Bus ausgebrannt. Als der Killer sich bei den Mädchen an die Arbeit machte, tat er das umgeben von den verkohlten Mauern des Hauses oder den halb geschmolzenen Sitzen des Busses. Und dieses Feuer hat es gerade erst gegeben. Es geschieht alles nach Keeners Tod!
Vermutlich als Resultat davon.
Keener ist nicht der einzige Killer. Er kann es nicht sein.
Plötzlich ein Hämmern an der Tür.
Von draußen hört sie Sims’ Stimme. »Kommen Sie raus, Miss Black! Ich weiß, dass Sie da drin sind!«
Verdammt!
Miriam schnappt sich Missys Taschenlampe und richtetsie aufs Fenster. Die dunklen Linien eiserner Gitterstäbe zeichnen sich hinter dem Glas ab. Da komme ich nicht raus.
Wren meldet sich zu Wort. »Hier drin ist niemand! Wir versuchen zu schlafen!«
»Wir haben Kameras. Du kannst uns nicht für dumm verkaufen!«
Missy vergräbt das Gesicht in den Händen. »Sie werden uns dermaßen rausschmeißen!«
Wren boxt sie noch mal.
»Tretet zurück!«, sagt Miriam zu den Mädchen. »Geht! Geht zum Fenster.«
Was bleibt ihr anderes übrig? Sie macht die Tür auf.
Sims steht da, umgeben vom Türrahmen. Zuerst denkt Miriam, er hat eine Pistole gezogen, aber dann erkennt sie es: Er hat einen Elektroschocker.
Sie hasst diese Dinger!
»Kommen Sie aus dem Zimmer raus!«, sagt er.
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