Blackhearts: Roman (German Edition)
Vielleicht ist das Mädchen ausgerastet. Vielleicht ist der kleine Faden, der ihren Verstand noch zusammengehalten hat, einfach gerissen, sie ist losgegangen und hat sich einen … einen Benzinkanister gesucht und angefangen, alles in Brand zu stecken.
Aber dann sagen sie im Fernsehen, dass zwei Leichen gefunden wurden.
Carl Keener, sechsundfünfzig. Körper verbrannt.
Und Annie Valentine, achtzehn.
Man fand sie draußen vor dem Haus.
In den Kopf geschossen.
Miriam greift nach dem Abfalleimer, übergibt sich auf die Reste von Krankenhausessen.
Vielleicht hat Annie eine Pistole gefunden. Im Haus.
Und sich dann umgebracht.
So muss es gewesen sein.
Etwas pickt in Miriams Hinterkopf herum. Ein Vogel, der ein Insekt fängt.
Ein Telefon klingelt.
Als Miriam den Kopf aus dem Abfalleimer zieht, steht Katey dort und hält ihr das Handy hin. »Es ist für dich.«
Miriam nimmt es, räuspert sich. »Hallo?«
»Du hast gesagt, ich soll anrufen, wenn irgendwas Merkwürdiges vor sich geht«, flüstert Wren.
Miriam räuspert sich noch einmal, wischt sich den Mund ab. »Was ist los? Geht es dir gut?«
»Ich bin okay. Ich hab mich rausgeschlichen, um das Telefon im Flur zu benutzen. Die Wachmänner haben mich nicht gesehen. Doch es geht nicht um mich – es geht um dich.«
»Wovon redest du?«
»Jemand hat etwas unter meiner Tür durchgeschoben. Ein weißes Stück Papier, wo was … wo was drauf geschrieben ist.«
»Was steht drauf?«
»Da steht: ›Sünd’ge Miriam, Geh fort von Sünd’, sonst wirst du verzweifeln, und in die Hölle fahr’n zu den Teufeln‹.«
Ein spitzer Eiszapfen aus Furcht durchbohrt Miriam unvermittelt.
»Geh zurück auf dein Zimmer!«, zischt sie. »Geh! Jetzt!«
»Ich … ich habe ein bisschen Angst.«
Miriam holt tief Luft, bemüht sich, nicht wieder zu kotzen.
»Sperr die Tür ab! Ich bin bald da. Ich verspreche es!«
VIERUNDVIERZIG
Ein schlechter Zeitpunkt für Geständnisse
Das Führerhaus von Louis’ Truck fühlt sich beengt an, soals würde Miriam in einem Leichensack stecken, der unter dunkles Wasser gezogen worden ist. Der Regen, der in Kaskaden über die Windschutzscheibe strömt, hilft da wenig. Es liegt nicht bloß daran, dass sie einen Fahrgast mehr haben – Katey, die hinter ihnen auf der Koje sitzt –, sondern daran, dass Miriam nicht verstehen kann, was hier vor sich geht. Zu viele Fragen. Dieses Rätsel ist eine Uhr mit kaputten Einzelteilen.
Annie Valentines Tod. Selbstmord? Vielleicht. Ihr Verstand war wie eine Puppe ohne Füllmaterial, und Miriam verspürt Gewissensbisse, weil sie dieses arme, leere Mädchen dort zurückgelassen hat. Und die Wunden, die sie hatte: Die waren nicht alle frisch, konnten also nicht von Keener stammen. War Annie crystalsüchtig? Vielleicht. Das könnte den Selbstmord erklären.
Aber der Zettel, der unter Wrens Tür durchgeschoben wurde …
Geh fort von Sünd, sonst wirst du verzweifeln, und in die Hölle fahr’n zu den Teufeln.
Keeners Lied. Sünd’ge Polly.
Nur dass es hier Sünd’ge Miriam heißt.
Irgendwer weiß Bescheid. Kann es Keener gewesen sein? Sie war lange genug bewusstlos, um ihm zu ermöglichen, zurück zur Schule zu fahren. Falls er Wren die ganze Zeit über bis jetzt beobachtet und ihren Tod geplant hat – es passt. Vielleicht.
Trotzdem. Irgendwas fühlt sich nicht richtig an.
Pick, pick, pick .
Miriam stellt das Radio an. Geht die Sender durch und horcht die Nachrichten.
»Die Phils sind für dieses Jahr draußen, aber mit der ganzen Wurfgewalt …«
»… Regenfälle werden noch vier Tage lang zunehmen, w ährend uns die Ausläufer des Tropensturms Esmeralda …«
»Und nun eine Jazz-Auswahl von Mumbai Xochitl als Teil unserer Reihe ›Klänge aus dem globalen Café‹ …«
Sie stellt das Radio wieder ab und reibt sich den Kopf. Es kommt ihr vor, als wären ihre Nebenhöhlen mit blutiger Baumwolle ausgestopft. Das Dermabond zieht ihr Gesicht straff. Zerrt und beißt und brennt.
»Vielleicht hätten wir im Krankenhaus bleiben sollen«, sagt Louis. »Sie wollten, dass du über Nacht dableibst. Diese Gehirnerschütterung musst du im Auge behalten.«
Miriam grunzt. »Scheiß drauf! Ist nicht so schlimm. Genau genommen …« Sie klopft eine Zigarette aus der Packung, öffnet das Fenster und lässt sich eine Stoß kühler Nachtluft ins Gesicht wehen. »… ist das genau das, was der Doktor verordnet hat. Ein Löffelchen voll Zucker.« Und siebenunddreissig Arten krebserregende
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