Blackmail: Thriller (German Edition)
weil er selbst eine Kandidatur für das Amt in Erwägung zog. Doch als ich ihn nach dem Treffen darauf ansprach, lachte der legendäre Bürgerrechtsanwalt auf.
»Diese Stadt braucht einen Idealisten«, sagte er, »keinen verschrobenen alten Pragmatiker wie mich.«
Während ich dasitze und den Blick über die Anwesenden schweifen lasse, stellt Jan Chancellor die Eröffnungsrednerin vor, Melissa Andrews. Ein großes Mädchen mit langen roten Haaren kommt nach vorn. Melissa liest von ihrem Blatt ab, ohne ein einziges Mal aufzublicken, doch sie spricht mit aufrichtiger Bewegtheit darüber, den sicheren Kokon der Klasse zu verlassen und über ihre Ängste, hinaus in eine Welt zu treten, wo keine Freunde und Eltern zugegen sein werden, die ihr Halt geben könnten. Meine Blicke gleiten über die aufmerksam lauschenden Gesichter, dann zum umgebenden Wald. Der Frühling ist endlich richtig angebrochen, und er hat mitgebracht,wonach alle sich verzweifelt gesehnt haben: eine Aura der Erneuerung.
Die abendliche Brise weht kühl und stetig, und die Bäume rings um das Stadion leuchten im lebendigen Grün neuer Blätter. Wenn Natchez das ganze Jahr so wäre, würden die Leute zu Tausenden hierher ziehen.
Unvermittelt bricht Jan Chancellors Stimme in meine Gedanken. »… ein bedeutender Anwalt, der mitten im Leben den Beruf gewechselt hat und zu einem Bestsellerautor wurde, doch für die Menschen in dieser Stadt wird er für alle Zeiten Mitglied des Football-Meisterschaftsteams der St. Stephen’s bleiben. Ladys und Gentlemen, Penn Cage.«
Ich erhebe mich und umarme Jan, bevor ich zum Rednerpult trete. Sie hat im vergangenen Monat viel Mut bewiesen, im Gegensatz zu einigen anderen Mitgliedern des Beirats, die ich mit Namen benennen könnte.
Anwälte sind berüchtigt dafür, süchtig auf den Klang ihrer eigenen Stimme zu sein, doch während ich die Menge anschaue, rufe ich mir mein Mantra für öffentliche Reden ins Gedächtnis. Sei aufrichtig, fasse dich kurz und bleib auf dem Boden. Unter Zuhilfenahme einiger Notizen, die ich an diesem Nachmittag auf einen Block gekritzelt habe, erzähle ich den Schülern die Dinge, die man normalerweise in einer Feierrede sagt: dass ihre Zeit gekommen ist, dass der Weg aus dieser Schüssel heraus nicht länger nach Natchez führt, sondern in die weite Welt hinaus, dass die Welt nur darauf wartet, im Sturm von ihnen erobert zu werden, wenn sie den Mut finden, danach zu greifen. Ich erzähle ihnen auch ein paar rauere Wahrheiten: dass die Welt, die sie jenseits von Mississippi antreffen werden, anders aussieht als die Welt, die sie bis zu diesem Tag ernährt hat, dass die Weißen unter ihnen sich zur Abwechslung bald schon mit Vorurteilen herumschlagen dürfen und dass es in der realen Welt häufiger darum geht, wen sie kennen und nicht, was sie wissen, um nach vorn zu kommen. Ich rede offen darüber, dass ihre Ausbildung nicht so gründlich war, wie sie hätte seinkönnen, doch ich sage ihnen auch, dass die emotionalen Wurzeln ihrer Mehr-Generationen-Familien dies mehr als wettmachen werden. Und obwohl es nicht in meinen Notizen steht, gebe ich auch eine Lektion an sie weiter, die mir in meinen beiden Berufen gute Dienste geleistet hat:
»Als Südstaatler werdet ihr ständig unterschätzt von den Leuten, mit denen ihr zu tun habt, und das kann durchaus ein Vorteil für euch sein. Lernt, wie ihr diese Leute am besten für eure Zwecke nutzen könnt.«
Nachdem ich von meinen Notizen bereits abgewichen bin, zögere ich einen Moment und schaue zu Mia hinunter, die in der ersten Reihe sitzt. Sie beobachtet mich so aufmerksam, als würde sie irgendeine profunde Weisheit von mir erwarten, ein inspirierendes Schlusswort nach meiner bisher viel zu allgemeinen Rede. Doch ich besitze keine derartigen Perlen der Weisheit. Was ich besitze, ist eine Erkenntnis, die mir mit plötzlicher, erschütternder Klarheit bewusst wird. Diese Kinder kommen nicht zurück. Zumindest nicht die besten von ihnen. Wie ich Caitlin beim Abendessen im Castle gesagt habe, die Eltern in dieser wunderschönen, einzigartigen Stadt erziehen ihre Kinder, damit sie anderswo leben. Irgendwie haben wir Natchez in einen Zustand entgleiten lassen, dass wir unseren klügsten Schülern keine Jobs mehr anbieten können. Und das ist inakzeptabel. Ich werde meine Tochter nicht in einer Stadt großziehen, die ihr keine Zukunft bietet. Und mit dieser schlichten Erkenntnis kommt die Gewissheit.
Ich kandidiere für das
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