Blackmail: Thriller (German Edition)
Bürgermeisteramt.
Nach einem wenig bemerkenswerten Schlusswort verlasse ich das Rednerpult, doch bereits während ich zu meinem Platz gehe, schöpfe ich neue Energie. Ich weiß jetzt, wie mein Weg von heute an aussieht.
Jan tritt erneut ans Pult und stellt eine Schülerin vor, die sie als eines der intelligentesten Mädchen bezeichnet, die zu kennen sie jemals das Privileg hatte.
Mia Burke.
Mia erhebt sich von ihrem Platz in der ersten Reihe und steigt unsicher die Stufen zum Podium hinauf. Sie bewegt sich normalerweise mit einer solchen Selbstsicherheit, dass ich mich frage, ob sie getrunken hat. Wenn ich mich recht entsinne, habe ich in der Nacht vor meinem Abschluss selbst ein wenig Alkohol trinken müssen.
Mia muss das Mikrofon zu sich herunterziehen, damit es richtig vor ihrem Mund sitzt. Aus den Lautsprechern dringt eine schrille Rückkopplung, dann Stille. Mia hält ein Blatt Papier in die Höhe und spricht im Plauderton.
»Wisst ihr … ich habe eine großartige Rede für heute Abend geschrieben. Ich habe das ganze Jahr darüber nachgedacht. Aber jetzt, wo ich euch vor mir sehe, will ich sie nicht halten. Diese Klasse hat eine Menge durchgemacht in ihrem letzten Jahr. Vielleicht zu viel. Wir haben sehr viel verloren … Wir haben zwei großartige Menschen verloren, und wir haben die letzten Fetzen unserer Unschuld verloren. Ich bin nicht sicher, ob wir irgendetwas gewonnen haben, außer Erfahrung. Doch ich schätze, es ist nicht an uns zu entscheiden, wann wir lernen, worum es im Leben wirklich geht.«
Mia blickt auf das Pult, scheint sich zu sammeln. »Ich weiß, dass viele Eltern zutiefst schockiert sind über das, was sie in der Folge von Kates und Chris’ Tod über unsere Klasse erfahren haben. Natürlich waren Eltern in jeder Generation schockiert, wenn sie die Wahrheit über das Leben ihrer Kinder erfuhren. Das ist der Lauf der Dinge. Doch heute, in unserer Zeit und mit unserer Generation, sind sie meines Erachtens zu Recht schockiert. Denn sogar ich, die dieser Generation angehört, bin schockiert über gewisse Dinge und bestimmte Entwicklungen. Wir scheinen an einem Punkt angelangt zu sein, an dem wir jede Form von Beschränkung abgestreift haben. Es gibt keine Regeln mehr. In den 1960er Jahren haben unsere Eltern für ihre politische Freiheit und die Befreiung des Selbst gekämpft. Nun, wir haben beides. Wir haben so viel Freiheit und Befreiung, wie man nur ertragen kann. Ich hatte einen Computerin meinem Kinderzimmer, seit ich fünf Jahre alt war. Ich hatte praktisch Zugang zu sämtlichen Informationen auf der Welt, seit ich zwölf war – nicht in einer Bibliothek, sondern direkt vor mir, an meinen Fingerspitzen. Auf einen bloßen Mausklick hin kann ich Bilder über fast alles ansehen, das meine Neugier weckt. Und das habe ich getan. Bin ich deswegen klüger geworden? Ich weiß es nicht.
Versteht mich nicht falsch, ich liebe meine Freiheit. Doch man kann auch zu viel des Guten haben. An irgendeinem Punkt muss man eine Grenze ziehen, sich an gewisse Regeln halten, oder es herrscht nur noch Chaos. Anarchie. Was ich heute Abend sagen will, ist Folgendes: Die Aufgabe unserer Klasse, unserer Generation besteht darin, dass wir herausfinden müssen, wo die Freiheiten der neuen Zeit sich vom Segen in einen Fluch verwandeln. Unsere Eltern können das nicht für uns tun. Sie begreifen nicht einmal mehr die Welt, in der wir heute leben. Vielleicht ist es eine Aufgabe, die eine Gesellschaft nicht bewältigen kann. Vielleicht ist es eine Entscheidung, die jedes Individuum für sich alleine treffen muss. Doch ich habe den Eindruck, dass Menschen mit absoluter Freiheit keinen guten Job machen, wenn es darum geht, Grenzen zu vereinbaren.«
Mia stößt einen tiefen Seufzer aus; dann schenkt sie dem Publikum eines ihrer strahlenden Lächeln. »Natchez ist eine gute Stadt, um dort aufzuwachsen. Doch jetzt ist es für die anderen und für mich an der Zeit, dass wir gehen. Ich habe Hoffnung, was die Zukunft betrifft. Ich habe den Glauben, dass ich die Welt verändern kann. Ich habe allerdings auch das Wissen, dass es nicht einfach wird.«
Sie winkt ihren Klassenkameraden ein letztes Mal mit ausgestreckter Hand zu; dann wendet sie sich vom Rednerpult ab und steigt die Stufen hinunter, um sich wieder zu ihnen zu setzen.
Der gedämpfte Applaus verstummt bald wieder. Niemand weiß, was er von Mias Aufrichtigkeit halten soll. Bei dem ein wenig gedrückten Abschluss der Zeremonie verteilt HoldenSmith die
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