Blackout
Ich habe versucht, ihre Familie zu verhören. Die alte, fette mamacita, zwei Brüder, davon einer mit wütenden Macho-Augen. Der Vater vor zehn Jahren gestorben. Die drei leben in einem winzigen Häuschen am Echo Park. Als ich hinkam, waren sie mitten im Trauern. Überall die Photos von dem Mädchen, und Hausältäre. Kerzen, Essen körbeweise, weinende Nachbarn. Die Brüder mürrisch und schweigsam. Mama sprach kaum Englisch. Ich machte den ernsthaften Versuch, mich gefühlvoll und sensibel anzupassen, andere Kultursphäre und so weiter. Ich lieh mir Sanchez von der Schutzpolizei aus, damit er übersetzte. Wir brachten Geschenke mit und hielten uns zurück. Ich bekam nada. Nichts. Nichts Böses hören, nichts Böses sagen. Ehrlich, ich glaube nicht, daß sie viel über das Leben von Elaine wußten. Für sie war West Los Angeles so fern wie Atlantis. Aber selbst wenn sie etwas wußten, sie haben mir nichts gesagt.«
»Glaubst du, daß sie auch dann schweigen«, fragte ich, »wenn ihnen klargemacht wird, daß sie mit ihren Informationen helfen würden, den Mörder des Mädchens zu finden?« Er schaute mich gequält an.
»Alex, solche Leute glauben nicht, daß die Polizei ihnen helfen kann. Für die sind la policia die Dreckskerle, die ihre cholos auf dem Revier ausquetschen und quälen und ihre Mädchen beleidigen und die nie da sind, wenn die Jugendbanden aus anderen Vierteln ohne Scheinwerfer mit den Motorrädern in ihrem Viertel herumbrausen und in die Schlafzimmerfenster ballern. Dabei fällt mir ein: Ich habe auch mit einer Freundin der Gutierrez gesprochen. Ihre Zimmergenossin, auch Lehrerin. Sie war unverhohlen feindselig und machte mir klar, daß sie nichts mit uns zu tun haben wollte. Ihr Bruder ist vor fünf Jahren bei einer Schießerei zweier Banden umgekommen, und die Polizei hat damals nichts für sie und ihre Familie getan, also sollte sie jetzt auch zur Hölle fahren. Hat sie gesagt.«
Er stand auf und ging wieder hin und her wie ein gefangener Löwe.
»Alles in allem ist Elaine Gutierrez für uns nichts als eine Ziffer in der Statistik. Abgesehen davon deutet nichts darauf hin, daß sie nicht so unschuldig wie frischgefallener Schnee gewesen wäre.«
Er sah elend aus, geplagt von Selbstzweifeln. »Ein schwerer Fall, Milo. Sei nicht so hart mir dir.«
»Komisch, daß du das sagst. Das hat mir meine Mutter auch immer gesagt. Mach es dir leichter, Milo Bernard. Sei kein solcher Profektionist - so hat sie das Wort immer ausgesprochen. Die ganze Familie hatte Tradition, was niedrige persönliche Erwartungen betraf. In der zehnten Klasse aus der Schule, Arbeit in der Gießerei, ein Leben, das mit Plastiktellern gedeckt war. Fernsehen, Picknicks im Kirchhof, dazu Stahlsplitter, die einem unter der Haut steckten. Nach dreißig Jahren Arbeit gerade so viel Pension und Invalidität, daß man hier und da ein Wochenende in die Ozarks fahren konnte- wenn man Glück hatte. So ging es meinem Vater, seinem Vater und meinen beiden Brüdern. Der Lebenshorizont der Sturgis-Familie. Aber nicht bei mir. Der Profektionist hat da nicht mitgemacht. Das kam erstens daher, daß dieses Lebensschema nur dann funktionierte, wenn man heiratete, und ich mochte die Männer schon seit meinem neunten Lebensjahr. Und zweitens- noch wichtiger: Ich fand, daß ich zu schlau war, um mein ganzes Leben lang das zu tun, was diese armen Teufel taten. Also brach ich mit der Tradition und schockierte sie damit zutiefst. Und der Rebell, der nach Ansicht aller mindestens Anwalt oder Professor oder wenigstens Buchhalter werden würde, was ist er geworden? Einer von la policial Ist das nicht toll für einen Kerl, der eine verdammte Diplomarbeit geschrieben hat über den Transzendentalismus in der Lyrik von Walt Whitman?« Er wandte sich ab und schaute auf die Wand, hatte sich selbst in Rage geredet. Das kannte ich schon bei ihm. Die beste Therapie war es, gar nichts zu sagen. Also ignorierte ich ihn und machte ein paar gymnastische Übungen.
Er brauchte zehn Minuten, um sich zu beruhigen, zehn Minuten, in denen er immer wieder seine großen Hände zu Fäusten ballte und lockerte. Dann folgte das versuchsweise Heben des Blicks, das unvermeidliche, alberne Grinsen. »Was verlangst du für die Therapie, Doktor?« Ich überlegte.
»Ein Abendessen. In einem guten Lokal.« Er stand auf, streckte sich und brummte wie ein Bär. »Wie wär’s mit Sushi? Ich bin heute abend verdammt barbarisch. Ich könnte den Fisch nicht nur roh, sondern sogar
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