Blackout
hier spricht Doktor Delaware. Ich wollte mich nur erkundigen, wie es Sarah geht.«
»Es geht ihr gut.« Ihr Ton war so eisig, daß man damit ein ganzes Bierfaß hätte kühlen können. »Sehr gut.«
Und bevor ich noch etwas sagen konnte, hatte sie aufgelegt.
Die Schule befand sich in einem Mittelklasse-Viertel, aber sie hätte ebensogut woanders stehen können. Es war eine jener altvertrauten Lern-Zitadellen, wie es sie überall gibt: fleischfarbene Gebäude, in klassischem Gefängnisstil errichtet und angeordnet, umgeben von einer schwarzen Asphaltwüste und gesichert durch einen drei Meter hohen Gitterzaun. Jemand hatte versucht, das Ganze etwas fröhlicher zu gestalten, und hatte an eine Seitenwand eine Szene spielender Kinder gemalt, aber es war eine eher schwache Wiedergutmachung. Wesentlich mehr halfen da der Anblick und die Geräusche wirklicher Kinder, die spielten, liefen, sprangen, sich tummelten, einander jagten, kreischten wie die Geier, Bälle in die Luft warfen, heulten mit der Wut der unschuldig Verfolgten - »Herr Lehrer, er hat mich geschlagen!«- oder in Kreisen herumsaßen und mit den Armen fuchtelten. Eine kleine Gruppe gelangweilter Lehrer stand an der Seite und ließ die Kinder nicht aus den Augen. Ich ging die Treppe zum Hauptgebäude hinauf und fand ohne große Mühe das Sekretariat. Der Gebäudeplan war ebenso kalkulierbar wie das düstere Äußere.
Ich hatte mich schon oft gefragt, warum alle Schulen, die ich kannte, so hoffnungslos häßlich waren, so voraussehbar deprimierend, und dann traf ich mich mit einer Krankenschwester, deren Vater einer der leitenden Architekten einer Baugesellschaft war, welche sich in den vergangenen fünfzig Jahren ausschließlich mit dem Bau staatlicher und kommunaler Schulen befaßt hatte. Dieses Mädchen hegte gemischte Gefühle dem Vater gegenüber: einem oft betrunkenen, melancholischen Mann, der seine Frau haßte, seine Kinder verachtete und die Welt als eine sich nur in Nuancen verändernde Serie von Enttäuschungen sah. Ein wahrer Frank Lloyd Wright! Das Sekretariat roch nach der Flüssigkeit für Vervielfältigungsapparate. Und mittendrin saß eine ernste Schwarze in den Vierzigern, umgeben von einer Trutzburg aus zerkratztem, hellem Eichenholz. Ich zeigte ihr die Identifikationskarte der Polizei, die sie nicht interessierte, und fragte nach Raquel Ochoa. Der Name schien sie auch nicht zu interessieren. »Sie ist Lehrerin hier.«
»Jetzt ist Mittagspause. Versuchen Sie’s im Speisesaal für Lehrer.«
Der Speisesaal war ein schlecht gelüfteter Raum von knapp vierzig Quadratmetern, in den Klapptische und Stühle hineingezwängt worden waren. Ein Dutzend Männer und Frauen saßen gebückt über Tütenlunch und Kaffee, lachten, rauchten und kauten. Als ich den Raum betrat, hörten alles Reden und Kauen auf »Ich suche Miß Ochoa.«
»Die finden Sie nicht hier, mein Lieber«, sagte eine dicke Frau mit platinfarbenem Haar.
Einige der Lehrer lachten. Sie ließen mich eine Weile stehen, dann erbarmte sich ein Mann mit jungem Gesicht und alten Augen:
»Zimmer dreihundertvier. Wahrscheinlich.«
»Danke.«
Ich ging. Und war schon ein ganzes Stück weg, bevor sie wieder zu sprechen begannen.
Die Tür zum Zimmer 304 stand offen. Ich ging hinein. Reihen leerer Schülerbänke füllten jeden Quadratzentimeter bis auf ein paar Meter ganz vorn, die freigeblieben waren, um dem Lehrerpult, einem metallischen, schachtelartigen Rechteck, Platz zu machen. Hinter dem Pult saß eine Frau und arbeitete. Wenn sie mich gehört hatte, so ließ sie es sich nicht anmerken, während sie ihre Lektüre fortsetzte, Fehler anstrich und Bemerkungen schrieb. Eine ungeöffnete braune Tasche stand neben ihr. Die Sonne schien durch die weitgeöffneten Fenster herein, und in den Strahlen konnte man die Staubpartikel tanzen sehen. Das weiche Vermeer-Licht kontrastierte mit der nützlichen Strenge des Raumes: nackte, weiße Wände, eine Tafel, grau von Kreideresten, eine fleckige, amerikanische Fahne.
»Miß Ochoa?«
Das Gesicht, das aufblickte und mich anschaute, stammte aus einem Fresco von Rivera. Rötlich-braune Haut spannte sich straff über scharf konturierte, aber schön geformte Knochen; feuchte Lippen und schmelzig schwarze Augen funkelten unter vollen, dunklen Brauen. Ihr Haar war lang und glatt und in der Mitte gescheitelt, während es hinten weit nach unten fiel. Teils aztekisch, teils spanisch, teils unbekannter Herkunft. »Ja?« Das Timbre war weich, doch die
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