BLACKOUT - Morgen ist es zu spät - Elsberg, M: BLACKOUT - Morgen ist es zu spät
Loire, aus der sie ihre Kühlflüssigkeit bezogen. Als Marpeaux Ende der Achtzigerjahre in dem Komplex zu arbeiten begonnen hatte, waren noch die beiden älteren UNGG -Reaktoren auf dem Gelände in Betrieb gewesen. Der schwere Zwischenfall, bei dem ein Brennelement geschmolzen war, das Gebäude kontaminiert und das Kraftwerk für zweieinhalb Jahre lahmgelegt hatte, lag damals bereits sieben Jahre zurück. Anfang der Neunzigerjahre hatte Electricité de France die beiden älteren Blöcke stillgelegt.
Marpeaux passierte die Sicherheitskontrolle am Eingang und parkte den Wagen an demselben Platz, an dem er vor fünfzehn Stunden eingestiegen war, nachdem er die Leitung der Nachtschicht an den Kollegen von der Vormittagsschicht übergeben hatte.
Frankreich bezog achtzig Prozent seines Stroms aus Atomkraftwerken. Wenn die Nachrichten der vergangenen Stunden stimmten und das Netz fast vollständig zusammengebrochen war, waren die meisten Reaktoren notabgeschaltet worden, überlegte Marpeaux. Der Automatismus würde die Steuerelemente zwischen die Brennstäbe senken und damit die nukleare Kettenreaktion weitestgehend stoppen. Dank seiner Tätigkeit wusste er seit Jahrzehnten, was vielen Menschen nicht, oder wenigstens bis zur Katastrophe in Fukushima nicht, bewusst gewesen war, dass ein abgeschalteter Reaktor weiterhin Hitze produzierte und gekühlt werden musste. Auch wenn es nur etwa zehn Prozent der Temperatur des Normalbetriebs waren, so genügten sie doch, um einen ungekühlten Reaktorkern zum Schmelzen zu bringen und zu einem GAU zu führen. Normalerweise stammte die Energie für die Sicherheits- und Kühlsysteme aus dem öffentlichen Stromnetz. Fiel dieses aus, sprangen die Notsysteme ein. Davon besaß die Anlage in Saint-Laurent pro Block drei voneinander unabhängige, die jeweils von Dieselmotoren gespeist wurden. Deren Vorräte waren auf mindestens eine Woche Betrieb angelegt.
Als er die Tür zum Leitstand öffnete, hörte er das aufgeregte Piepen und Heulen verschiedener Warntöne. Seit fast zwanzig Jahren war Marpeaux Reaktorfahrer, seit bald acht Jahren leitete er eine der drei Schichten pro Tag. Solche Situationen beschleunigten seinen Puls schon lange nicht mehr. Als er den Raum mit Hunderten Lichtern und Anzeigen betrat, saß und stand ein Dutzend Reaktorfahrer ruhig und konzentriert an ihren Plätzen. Einige kontrollierten die Zahlen, Zeiger und Leuchten vor sich, andere schlugen in ziegeldicken Schwarten nach, was die Signale im Detail bedeuteten und wovon sie ausgelöst worden waren. Lauter erfahrene Männer, die mindestens zwei Wochen pro Jahr in Übungsleitständen jeden nur denkbaren Ernstfall trainieren mussten. Der momentane Schichtleiter begrüßte ihn mit einem Handschlag.
»Was ist los?«
»Ein Diesel von Block 2 ist ausgefallen. Gleich zu Beginn.«
»Die anderen laufen?«
»Problemlos.«
Marpeaux konnte nicht anders, als an schwere Zwischenfälle mit der Notstromversorgung zu denken. 2006 im schwedischen Kraftwerk Forsmark etwa, als die Mannschaft über zwanzig Minuten lang nicht gewusst hatte, was vor sich ging. Die darauf folgenden Untersuchungen waren zu sehr unterschiedlichen Schlüssen gekommen. Während der Betreiber ebenso wie die schwedische und die finnische Strahlenschutzbehörde darauf beharrten, dass zu keinem Zeitpunkt Gefahr bestanden habe, meinten andere Analysten und Beobachter, darunter ein ehemaliger Konstruktionsleiter des Kraftwerks, dass die Anlage unmittelbar vor einem GAU gestanden habe.
Andererseits hatten sie selbst bei Zwischenfällen schon bis zu einer Stunde lang im Dunklen getappt, und danach hatte sich alles als so harmlos herausgestellt, dass sie die Ereignisse nicht einmal an die Behörden oder die Internationale Atomenergie-Organisation in Wien gemeldet hatten. Trotzdem bereitete Marpeaux die Ahnungslosigkeit der Kollegen Unbehagen.
»Hat es was mit dem Test zu tun?«
Vor drei Tagen hatten sie zwei der Notstromsysteme überprüft.
Der Schichtleiter zuckte mit den Schultern.
»Du weißt ja, wie das ist. Das wissen wir vielleicht in zwei Monaten, wenn wir alles untersucht und rekonstruiert haben.«
Nach und nach trudelten die Männer aus der Schicht von Marpeaux ein und tauschten sich mit ihren Vorgängern aus. Angeregte Diskussionen entstanden, führten aber zu keinen Ergebnissen. Einige der Anzeigen beendeten ihre Warnungen, dafür sprangen andere an.
Marpeaux wies zwei seiner Männer an, die Dieselpanne genauer zu untersuchen, dann konzentrierte er
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