BLACKOUT - Morgen ist es zu spät - Elsberg, M: BLACKOUT - Morgen ist es zu spät
Verhältnisse gewöhnt hatten, sie zur Verantwortung ziehen würden. Und begannen, wirklich etwas zu ändern.
Langerwehe
In einem Fachwerkhaus, ein paar Straßen von der Lebensmittelausgabestelle entfernt, wurde Shannon fündig. Bereits im Hausflur lehnten Menschen an den Wänden oder saßen auf dem Boden. Unter wiederholtem » Sorry, sorry « zwängte sich Shannon mit Manzano hindurch, nur um den Warteraum noch voller vorzufinden, die Luft klamm und stickig.
Erneut das Sprachspiel. Ein älterer Herr in Hut und Mantel gab ihr schließlich Auskunft. Sie alle warteten hier, teils schon seit Stunden. Sie müsse sich im Flur anstellen. Er selbst sei gestern schon da gewesen, aber nicht mehr drangekommen. Nein, er wisse nicht, wie lange der Arzt heute Patienten empfing.
Hilfe für Manzano konnten sie nicht erwarten. Sie mussten eine andere Möglichkeit finden.
Shannon fragte den Mann, ob er wusste, wo versorgte Gebiete lagen.
»Glauben Sie, dann wäre ich noch hier?«, fragte er zurück.
Ein Kind fing zu brüllen an, andere Wartende wandten sich entnervt oder mitleidig zu ihm um, die Mutter nahm es in den Arm, flüsterte beruhigend auf die Kleine ein, doch die schrie nur noch lauter. Shannon spürte, wie der Lärm auch an ihren Nerven zerrte.
»Kennen Sie jemanden, der mir weiterhelfen kann?«
»Vielleicht die Polizei oder im Rathaus. Das liegt zwei Straßen weiter.«
Das Rathaus war ein Stilmix in Gelb, Rot und Glas. Im Gebäude stießen sie auf die nächste Warteschlange. Dicke Wintermäntel, Mützen, Schals, Handschuhe, warme Schuhe oder Stiefel. Schon die zweite Befragte antwortete ihr, wofür sich die Menschen anstellten, in leidlichem Englisch: »Verschiedenes. Hauptsächlich Lebensmittelkarten.«
»Lebensmittelkarten?«
»Ohne die bekommt man bei der Ausgabe gar nichts.«
»Woher kommen die? Wer druckt sie aus, bringt sie?«
Die Frau sah sie verwundert an. »Niemand, nehme ich an. Die Beamtin kritzelt auf einen Zettel, welchen Anspruch man hat, und stempelt den ab.«
»Dauert es lang, bis man drankommt?«
Die Frau zuckte mit den Schultern. Auch die Frage nach stromversorgten Regionen konnte sie nicht beantworten. So mussten sie wohl oder übel mit Eberhart und Carsten weiterfahren.
Unverrichteter Dinge verließen sie das Rathaus und erreichten ein paar Minuten später den vereinbarten Treffpunkt.
Aus der Ferne beobachtete Shannon, wie der Lastwagen losrollte. Ein paar Menschen klammerten sich an ihn, stürzten jedoch auf die Straße, als das Fahrzeug beschleunigte.
Eberhart hatte den Abstand bis hierher richtig eingeschätzt. Als der Lkw vor Shannon und Manzano hielt, konnten ihn die Menschen vom Platz nicht mehr einholen.
»Einsteigen!«, befahl Eberhart hektisch.
Shannon und Manzano hatten sich noch nicht richtig gesetzt, da trat Carsten auf das Gaspedal.
Orléans
Annette Doreuil richtete ihre Haare vor dem fleckigen Spiegel. Als der nächste Luftschwall aus den Toiletten ihre Nase streifte, hielt sie den Atem an. Schnell fuhr sie mit den Fingern weiterhin durch ihre Frisur, als sie plötzlich zwischen ihren Fingern eine Haarsträhne entdeckte. Erschrocken vergaß sie den Gestank und schnappte nach Luft. Irritiert schüttelte sie das dünne Etwas in das Waschbecken. Noch einmal fuhr sie durch ihre Haare, zog vorsichtig an ihnen. Abermals blieben graue Strähnen in ihrer Hand zurück. Ein paar Haare verliert man immer, dachte sie, habe ich mein Leben lang getan. Die wachsen nach. Gleichzeitig kamen ihr die Bilder eines Anti-Atomkriegfilms aus den Achtzigerjahren in den Sinn. Darin begannen die Hauptfiguren wenige Tage, nachdem sie von den Bomben verstrahlt worden waren, ihre Haare zu verlieren. Einige Wochen später waren die Menschen qualvoll gestorben. Sie spürte, wie ihr Gesicht heiß anlief.
Links neben ihr wusch sich eine Frau in ihrem Alter die Arme mit einem Waschlappen, rechts badete eine junge Frau ein Baby im Waschbecken.
Zitternd ließ Doreuil ihre Hand noch einmal über das Haar gleiten. Diesmal blieb nichts zurück. Sie hatte aber auch nicht zu ziehen gewagt. Eilig verließ sie die Gemeinschaftsnassräume, deren Fliesenboden so schmutzig war, dass sie selbst mit Schuhen kaum darübergehen wollte.
Fett und kalt hing die Luft in dem breiten Gang, der die Halle umschloss, von der Decke glomm das Licht einiger verlorener Neonleuchten. Den ganzen Tag über erfüllte eine Mischung aus Flüstern, Reden, Schnarchen, Weinen und Schimpfen den Saal, der normalerweise Sportlern und
Weitere Kostenlose Bücher