BLACKOUT - Morgen ist es zu spät - Elsberg, M: BLACKOUT - Morgen ist es zu spät
geschwenkten Fäuste und Transparente.
Wir haben Hunger!
Wir frieren!
Wir brauchen Wasser!
Wir brauchen Heizung!
Wir wollen auch Strom!
Bescheidene Wünsche, dachte Michelsen. Und doch immer schwerer zu erfüllen. Ihr war bewusst, welches Bild sie da oben für die da unten abgeben mussten. Menschen ohne Mäntel, dicke Pullover, Schals und Fäustlinge, hinter Scheiben eines beleuchteten, offensichtlich geheizten Gebäudes, blickten wie aus einer Festung herab auf die Belagerer in der Kälte.
Die Menge bewegte sich hin und her, ein Meer von Köpfen, das immer wieder auf das Gebäude zuwogte, sich etwas zurückzog, wieder näher kam. Michelsen wusste, dass die Tore unten geschlossen und durch Polizisten gesichert waren.
»Ich muss wieder an die Arbeit«, sagte sie und wandte sich ab. Ein dumpfes Geräusch ließ sie sich noch einmal umdrehen. Ihre Kollegen waren zurückgewichen und blickten erschrocken zu den Fenstern. Wieder schlug ein Schatten gegen eine Scheibe, über die sich ein spinnennetzartiges Gewirr von Rissen ausbreitete. Mehr Steine flogen gegen die Fassade, zwei weitere Fenster zeigten plötzlich Sprünge. Obwohl das Sicherheitsglas stabil genug war, traten die Personen im Flur zurück. Einer nach dem anderen machte sich wieder auf den Weg in die Räumlichkeiten der Krisenzentrale, die durch Spezialtüren mit Sicherheitscodes gesichert waren. Nur eine Handvoll blieb.
Genau dafür bin ich eigentlich da, dachte Michelsen: um so etwas zu verhindern. Das Gefühl des Versagens kroch ihr in alle Glieder, ihre Zähne schlugen aufeinander, als hätte sie Schüttelfrost. Sie lehnte sich gegen die Wand, sah den Steinen zu, die gegen das Glas donnerten.
Dann hörte der Hagel auf. Fünf der sechzehn Fenster im Flur waren beschädigt worden.
»Wir lassen die Russen kommen«, hörte sie den Bundeskanzler zum Außenminister sagen.
Vorsichtig wagte sich Michelsen wieder zu den Fenstern. Vor dem Gebäude breitete sich Rauch aus. Feuer oder Tränengas?, fragte sie sich.
Nahe Düren
»Und Sie?«, fragte Shannon den Beifahrer. »Was machen Sie hier auf der Straße?«
»Carsten arbeitet für einen großen Lebensmittelkonzern«, antwortete Eberhart. »Normalerweise beliefert er die Filialen vom Zentrallager aus mit Lebensmitteln.«
Bei dem Gedanken an Essen zog sich Shannons Magen zusammen.
»Sie sprechen gut Englisch.«
»Ich studiere«, erklärte Eberhart. »Das hier mache ich als Nothelfer.«
»Und was haben Sie dabei?«
»Was noch verwendbar ist. Konserven, Mehl, Nudeln. In allen Ortschaften auf unserer Route wurden bestimmte Filialen zu Lebensmittelausgabestellen umfunktioniert, meistens von den örtlichen Behörden. Dort verteilen wir festgelegte Mengen, direkt vom Lastwagen. Aber lange wird das ohnehin nicht mehr gehen.« Er blickte nachdenklich aus dem Fenster.
»Weshalb?«
»Weil unser Lager praktisch leer ist. Das ist eine unserer letzten Fahrten. Schon jetzt müssen wir bei der Ausgabe streng rationieren.«
Shannon zögerte, bevor sie ihre nächste Frage stellte: »Sie transportieren Lebensmittel. Wir haben seit gestern Morgen nichts mehr gegessen.« Als keiner der beiden reagierte, fügte sie hinzu: »Ich hätte noch ein wenig Geld übrig.«
Eberhart musterte sie mit zusammengekniffenen Augen.
»Sie haben noch Geld?«
In Shannon stieg ein unangenehmes Gefühl hoch, das ihren schmerzenden Magen jedoch nicht beschwichtigte.
»Wenig«, schwächte sie ab. »Ich dachte, ich könnte Ihnen etwas abkaufen.«
Eberhart kratzte seinen Bart. »Dürfen wir nicht. Notstandsgesetze. Wir müssen das Zeug gratis verteilen. Ist streng rationiert.« Dabei fixierte er sie so intensiv, als erwartete er von ihr ein Angebot.
»Ein kleines Paket«, versuchte Shannon. »Für meinen Kollegen und mich. Sie sehen ja, wie es ihm geht.«
Eberhart warf einen Blick auf Manzano, der zu keiner Reaktion fähig war.
Shannon kramte in ihrer Tasche.
»Ich habe hier fünfzig Euro. Damit wäre so ein Paket doch sicher bezahlt? Gut bezahlt.«
»Hundert«, sagte Eberhart und griff nach den Scheinen. Shannon zog sie zurück.
Eberhart wandte sich der Straße zu, als sei nichts geschehen. Eine Minute lang, in der Shannons Magensäure sich in ihrem ganzen Bauchraum auszudehnen schien, fuhren sie so.
Schließlich gab Shannon nach: »Sechzig.«
»Jetzt sind es schon hundertzwanzig.«
Shannon fluchte lautlos. Als Nächstes würde er sie aus dem Wagen werfen.
»Achtzig.«
»Ich habe heute Morgen anständig gefrühstückt.«
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