Blade 02 - Nachtklinge
schien eine Antwort geben zu wollen und entschied sich dann doch dagegen. Giulietta war enttäuscht. Man behandelte sie immer noch wie ein Kind. Doch als Alexa ihr wohlwollend zunickte, fragte sich Giulietta, ob sie sich vielleicht irrte. Man behandelte sie doch nicht wie ein Kind. Das Palastleben war kompliziert.
Leopold hatte ihr gesagt, das Palastleben sei überall auf der Welt kompliziert.
Als spiele man Schach vor einem Spiegel, mit Figuren, von denen die Hälfte unsichtbar war.
»Meine Wache begleitet dich nach Hause.«
Giulietta ahnte, wie schwer es ihrer Tante fallen musste, die Ca’ Friedland als Zuhause zu bezeichnen. Sie lächelte und sagte: »Ich habe meine eigene Wache mitgebracht.«
»Dann pass gut auf dich auf. Abgesehen von Marco …«
Der Satz blieb unvollendet. Giulietta wünschte sich, dass ihre Tante sagen würde: Abgesehen von Marco bist du mir das Liebste auf der Welt. Ich könnte es nicht ertragen, wenn dir etwas zustößt. Oder einfach: Sobald es Marco bessergeht, kümmern wir uns um …
Liebte ihre Tante sie überhaupt? Warum hatte sie es ihr nie gesagt? Giulietta sehnte sich nach Liebe, nach einer anderen Liebe als der ihres kleinen Sohnes. Leopold hatte sie geliebt. Und Tycho …
Doch es war sinnlos, von jemandem geliebt zu werden, den man verabscheute.
Giulietta küsste die Dogaressa zum Abschied auf die Wange und machte einen tadellosen Knicks. Auf dem Heimweg dachte sie daran, wie schwer das Leben ihrer Tante sein musste. Alexa war einst als Tochter eines unbedeutenden Khans nach Venedig gekommen und hatte völlig anders geheißen.
Damals waren in Venedig noch schlimme Erinnerungen an die Goldene Horde wach gewesen. Mittlerweile hatte Tamerlan – ein entfernter Verwandter Alexas, der sie in Briefen stets mit Tante anredete – ganz China erobert. Sein Imperium erstreckte sich vom Gelben Meer bis an die Grenzen des Byzantinischen Reichs.
Seide aus Kathai fand den Weg in Alexas neue Heimat, Gewürze aus Nordindien und Silberschmuck aus Samarkand. Dafür wurden westliche Waren auf venezianischen Schiffen gen Osten transportiert, und die satten Gewinne landeten in den Schatzkammern der Serenissima.
Venedig
brauchte
Alexa, weil sie mit dem Khan der Khans verwandt war.
Giulietta war mit einem Mal froh darüber, sie selbst zu sein.
12
T radition und Religion untersagten es strengstens, Tote zu verbrennen. Auf Religion wurde in Venedig wenig gegeben, es sei denn, sie passte mit der städtischen Politik zusammen. (Nicht einmal die drohende Exkommunizierung und ewiges Höllenfeuer konnten die Venezianer zu gehorsamen Anhängern des Papstes machen.) Mit der Tradition verhielt es sich allerdings anders. Die Venezianer hielten große Stücke auf die Tradition.
Abgesehen davon gab es noch die Frage der Auferstehung. Dabei ging es weder um Religion noch um Tradition, sondern um gesunden Menschenverstand. Wie sollte man beim letzten Trompetenstoß aus dem Grabe auferstehen, wenn der Körper verbrannt war?
Der Küster von San Giacomo, einem Viertel zwischen den Armenvierteln von Cannaregio und den Werften, verschwendete keinen Gedanken an derartige Feinheiten. Hätte ihn die Stadt dafür bezahlt, würde er ohne zu zögern Leichen verbrennen. Aber die Stadt wollte ihre Toten begraben.
Andererseits warf auch das Beerdigungsgeschäft einige Münzen ab, und für den Cousin des Küsters und manchmal auch für den Küster selbst war es noch lukrativer, sie wieder auszugraben.
»Das hier ist es«, sagte der Cousin.
»Bist du sicher?« Sein Halbbruder blickte suchend zwischen den mondbeschienen Gräbern umher. Wurzelreste schauten aus der frisch umgegrabenen Erde, aus der vereinzelte junge Gräser sprossen.
»In dem anderen Grab liegen die mit Blattern.«
Sein Halbbruder verstummte vor Schreck.
Die Krankheit war kürzlich im Orseolo-Hospital ausgebrochen. Die meisten Kranken starben innerhalb von zehn Tagen, und die Leichen wurden vor der Bestattung mit ungelöschtem Kalk bestreut. Diese Gräber durften kein weiteres Mal benutzt werden.
»Außerdem habe ich die Stelle mit Giorgios Schaufel markiert«, erklärte der Cousin des Küsters. Ein schäbiger Spaten, den niemand stehlen würde, steckte in einem der Grabhügel. »Los, fang an.«
»Du bist an der Reihe. Ich hab das letzte Mal gegraben«, gab sein Halbbruder zurück und trabte zu dem kleinen Boot im Uferschlamm. Die Männer waren gelernte Fischer, aber Leichen stehlen brachte mehr ein. Er löste einen Korbschlitten aus dem Boot
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