Blanche - Die Versuchung
einen Rachefeldzug in Kalabrien, der Wellen bis nach Sizilien schlug und Jahre später den zweiten Mafiakrieg einleiten sollte. Doch das alles sollte Enzo erst viel später erfahren. Die eigenen Eltern sterben zu sehen, hatte ihn ein Leben lang verfolgt, genau wie die Wut über den Verrat der Schwester seiner Mutter, die den Feind ins Haus gelassen hatte. Enzo durchlief diese schlimmen Minuten wieder und wieder in seinen Albträumen. Doch so intensiv wie in diesem Augenblick hatte er sie noch nie erlebt. Das Flehen seiner Mutter, die nicht um ihr eigenes Leben bat, sondern um das ihres Sohnes. Ihr Blut in seinem Gesicht schmeckte nach Salz und irgendwie metallisch. Sie hatten ihr die Kehle aufgeschlitzt. Die klaffende Wunde an ihrem Hals sah wie ein zweiter Mund aus – ein lächelnder Mund. Schockwellen schüttelten den Jungen von damals und schnürten ihm die Luft ab. Er öffnete die Lippen zu einem stummen Schrei, der in seinem Hals erstarb. Dann drückte ihm jemand eine Waffe in die Hand, und befahl ihm, seinen Vater hinzurichten – die einzige Möglichkeit für ihn, sein eigenes Leben zu retten. Die Erinnerung an seinen Vater, der ihn bat, zu tun, was die Männer verlangten, war sogar noch niederschmetternder für ihn gewesen als der Tod seiner Madre, die vor seinen Augen verblutete. Wie konnte sein Vater auch nur im Traum von ihm verlangen, dass er ihn umbrachte, seinen einzigen Sohn bitten, ihn zu töten?
Als er dem Mörder seiner Mutter eine Kugel in den Oberschenkel jagte, schrie sein Vater voller Verzweiflung auf, während der erwachsene Enzo in seiner Bibliothek auf die Knie fiel.
Arziel atmete tief ein, und weidete sich an seinem Leid, nährte sich von ihm, während Enzo rasselnd nach Atem rang und die Krawatte lockerte. Als er den Blick hob, war sein Gesicht schweißgebadet.
„Was bist du?“, fragte er mit brüchiger Stimme.
„Ah, wie gedankenlos von mir. Ich dachte, das wäre offensichtlich. Mein Auftraggeber ist der Hohe Lord Saetan, mein Souverän und Herrscher der Finsternis. Und ich bin Arziel, sein bescheidener Diener.“
Enzo rappelte sich mühsam auf die Beine, lehnte sich rücklings gegen den Schreibtisch und schloss die Augen. Nach einem Moment des Schweigens fragte er matt: „Ich glaube nicht an Dämonen, also erspar mir diesen Zirkus.“
„Es ist völlig unerheblich, woran du glaubst, Sterblicher. Wir Dämonen sind so alt wie die Erde selbst und wir ziehen es vor, im Hintergrund zu bleiben, bis ihr uns nützlich sein könnt. Und dieser Fall ist nun eingetreten.“
„Wozu brauchen wir Dämonen? Es gibt genug Menschen für diesen Job.“
Arziel lächelte, und in seinen dunklen Augen blitzte etwas auf. „Ah, die Menschen. Sie denken so klein, so furchtbar klein. Ständig seht ihr auf euer eigenes, armseliges Leben und vergesst dabei das große Ganze. Ihr seid wie Schafe auf einer Weide, die nach Wasser und Gras verlangen. Die universellen Zusammenhänge übersteigen euer Denkvermögen, darum ist es gut, dass es uns Dämonen gibt, denn wir vergessen niemals unsere Herkunft und wozu wir in diese Welt gekommen sind.“ Arziels Gelassenheit war mit einem Mal wie fortgewischt, und seine Stimme bekam einen messerscharfen Klang. Mit jedem Atemzug entzog er dem Raum Licht, der allmählich arktische Temperaturen annahm.
„Euer Schöpfer, dieser Popanz“, fuhr er mit schneidender Stimme fort, „hält euch für etwas Besonderes. Dabei seid ihr nichts weiter als Marionetten. Man kann euch so leicht in Versuchung führen, wie eine Laus, die man mit einem Tropfen Blut lockt. Ihr seid eine jämmerliche Spezies, die sich wie Ratten vermehrt. Blind und taub für das Paradies, das euch umgibt, habt ihr diesen Ort in eine sprichwörtliche Hölle verwandelt. Ihr seid der Abschaum dieser Welt, armselig und schwach wie euer erbärmlicher Glaube.“
Er war jetzt so nah an Enzo herangetreten, dass er den eisigen Dämonenatem spüren konnte, der ihm kalte Schauder über den Rücken jagte.
„Du fragst, wozu ihr Dämonen braucht? So, wie euer Gott sich durch seine Schöpfung erfährt, lebt Saetan durch die besetzten Menschen. Er selbst kann die Erde nicht betreten, genauso wenig wie sein himmlisches Pendant. Dämonen jedoch sind dazu durchaus in der Lage.“
Enzo tastete nach dem winzigen Madonnen-Anhänger in seiner Hosentasche und umklammerte ihn wie einen Rettungsring. „Ich glaube nicht an den Teufel“, erwiderte er mit brüchiger Stimme. „Wer soll das sein?“
Arziels Mund verzog sich zu
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