Blanche - Die Versuchung
ausstatten. Was ein bisschen peinlich werden könnte, wo sich Beliar noch im Vollbesitz seiner Kräfte befand. Zwei Herrn des Nordens zur gleichen Zeit. Zwei Gebieter des Feuers auf der Erde. Das Wort peinlich traf es nicht mal annähernd.
„Halte dich von ihr fern“, sagte Tchort. Der Harzgeruch intensivierte sich. Er war wütend. Gut.
„Ich kann sie schützen“, entgegnete Beliar.
„Ach ja? So wie du Æywyn beschützt hast?“
Ein Ring aus Feuer explodierte um Beliar, während er zurücktaumelte, als hätte Tchort ihm den silbernen Stock ins Herz gerammt. Violette Flammen überzogen die schimmligen Kellerwände und breiteten sich rasend schnell über die Gewölbedecke aus. Vor seinem inneren Auge sah er den Mann, der er einmal war. Zu einer anderen Zeit. In einem anderen Leben. Eine eisige Hand griff in seinen Brustkorb und drückte zu, sodass ihm für einen Augenblick die Luft wegblieb. Halt suchend stützte er sich mit einer Hand an der Wand ab und rang nach Atem. Nicht zu fassen, welche Wucht an Gefühlen ein Name auslösen konnte. Jahrhunderte hatte er nicht mehr an Æywyn gedacht, die Frau, deretwegen er gefallen und zum Ausgestoßenen geworden war. Als er den Erzengeln angehörte, hatte er die Menschenfrau aus der Ferne bewundert, die sich bereits als Kind um ihre Familie kümmerte. Æywyn lebte in Zeiten, die sich ein moderner Mensch in seinen kühnsten Albträumen nicht vorstellen konnte. Oder wollte. Wie Blanche kämpfte sie ums Überleben. Und wie seine Gefährtin hatte sie sich eine raue Schale zugelegt, unter der sich eine verletzliche junge Frau verbarg. Mit dem Mut der Verzweiflung hatte sie sich und ihre Geschwister durch härteste Winter gebracht. Das Leben ließ ihr keine Wahl, und so lernte sie früh zu kämpfen wie ein Mann und zu fluchen wie einer. Aber bei Gott, wenn sie sang, verstummten die Vögel in den Bäumen und der Wald lauschte mit angehaltenem Atem.
Wie von selbst wanderte seine Hand zu seinem Herzen und er rieb sich die Brust, als könnte er damit den Schmerz der Erinnerung vertreiben. Es war Ende des achten Jahrhunderts und England befand sich im Krieg mit den Dänen, die zunächst auf Raubzug gingen, und sich später dort niederließen. Æywyns Familie wohnte in einem Dorf in Mercia nahe des Trents, dem heutigen Staffordshire. Ihre Eltern wurden von einem Trupp Nordmänner niedergemacht. Sie suchten Lebensmittel für ihre Flotte, die am Ufer des Trents vor Anker lag. Danach war Æywyn mit ihren fünf Geschwistern ständig auf der Flucht gewesen. Sie mussten um alles kämpfen, ob Essen, Feuerholz oder eine Bleibe. Doch egal wie brenzlig es wurde, sie gab nicht auf. Auch das hatte sie mit Blanche gemeinsam.
Der Gedanke an seine Gefährtin ließ sein Herz einmal mehr zusammenkrampfen, doch er ignorierte den Schmerz. In den Wirren des Krieges verlor Æywyn zwei Brüder, die drei anderen Geschwister brachte sie durch. Sie war vierzehn, als er sich ihr zum ersten Mal zeigte und unter dem Namen Eliah vorstellte. Er half ihr gegen eine Horde plündernder Söldner und erschreckte sie beinahe zu Tode. Die ersten Worte, die sie damals zu ihm sagte, würde er nie vergessen. Es waren die gleichen, die er mit Blanche gewechselt hatte.
Die Erinnerung bohrte sich wie ein glühendes Eisen durch seinen Brustkorb und er lächelte traurig. Als er auf sie zuging, erhob sie warnend einen Knüppel und flüsterte: „Nicht bewegen.“
Darauf hatte er mit dem Kinn auf den Ast in ihrer Hand gedeutet und gesagt: „Den brauchst du nicht.“
„Vertrauen ist nichts, das man umsonst bekommt.“
„Dann werde ich es mir verdienen müssen.“
Und das hatte er. Als Erstes brachte er sie und ihre verbliebenen Geschwister in einem Gasthaus unter. Mit seinen mentalen Kräften sorgte er dafür, dass die Wirtin in Æywyn und ihren beiden Schwestern fähige Arbeitskräfte sah. Auch an dem kleinen Bruder fand sie Gefallen, statt ihn als Belastung anzusehen, die er war. Danach stellte er sicher, dass Æywyn ihn wieder vergaß, auch wenn sein Herz deswegen beinahe brach. Doch für sein Wirken auf Erden galten Regeln, an die musste er sich halten.
Æywyn und ihre Geschwister verbrachten fast zwei Jahre in dem Schankhaus. Die Jüngste wurde Magd im Schloss von Tamworth. Die Mittlere heiratete in die Familie des Sattlers, während sich Rædwulf mit dreizehn Jahren der Armee König Ælfreds anschloss. Einzig Æywyn blieb allein. Manchmal kam es ihm vor, als wäre er nicht ganz aus ihrem Gedächtnis gelöscht
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