Blankes Entsetzen
wie die Lüge, dass du dich nicht an Einzelheiten erinnerst.«
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»Du verstehst das nicht«, sagte er wieder. »Wie könntest du auch? Und du ahnst nicht mal, dass es auf gewisse Weise ein Kompliment ist.«
»Kompliment?« Lizzie wurde schwindelig vor Empörung und Wut. »Du bist ja verrückt!«
»Ich weiß, wie schwer zu verstehen ist, was ich meine.
Wahrscheinlich kannst du es auch dann nicht akzeptieren, wenn ich es dir zu erklären versuche.«
Von diesem Moment an sagte Lizzie kein Wort mehr. Sie saß wie versteinert am Küchentisch, und nur das Gefühl, irgendwie außerhalb ihres Ichs zu stehen – so, als wäre das alles gar nicht real –, war ihr eine kleine Hilfe, wie sie im Nachhinein feststellte.
Es sei ein Kompliment, erklärte Christopher, weil es bedeutete, dass er endlich das tat, was er schon immer hatte tun wollen: ihr sein tiefstes Geheimnis anvertrauen.
»Ich hatte schon befürchtet«, sagte er, »dass ich vielleicht nie in der Lage dazu wäre und dass ich keine Alternative hätte, als diese Bedürfnisse bei Fremden auszuleben.«
»Bei Fremden?«, wiederholte Lizzie leise.
»Prostituierte.« Er sah das Entsetzen auf ihrem Gesicht.
»Lizzie, für mich war das ebenso abstoßend.«
»Das bezweifle ich.« Ihre Stimme zitterte.
»Wie kannst du denn etwas anderes glauben?«
»Ich will gar nichts glauben.«
Christopher griff über den Tisch und versuchte, ihre Hand zu nehmen, doch Lizzie riss sie weg und starrte ihren Mann an, als habe sie ihn noch nie zuvor richtig gesehen.
»Ich habe es so sehr versucht«, sagte er. »Seit ich dir zum ersten Mal begegnet bin, habe ich getan, was ich konnte, damit dein Leben so glücklich und erfüllt ist wie möglich.« Er zuckte mit den Achseln, als wäre das, was er da sagte, ganz alltäglich.
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»Wahrscheinlich dachte ich bloß, du möchtest das Gleiche für mich tun.«
»Und wie?« Lizzies Stimme klang plötzlich schrill. »Indem ich deine … Bedürfnisse befriedige? Indem ich den Platz dieser Fremden einnehme?«
»Ich habe einen Fehler gemacht«, sagte Christopher düster.
»Einen schrecklichen Fehler.«
»Und das soll mich davon abhalten, dich zu verlassen?«
»Mich verlassen? «Er war erschüttert. »Du kannst mich nicht verlassen, Lizzie.«
»Ich kann nicht bei dir bleiben. Ich kann nicht mit einem Mann leben, der so die Kontrolle verliert, dass er auf mich losgeht, wenn das Bedürfnis ihn überkommt. Wenn es nicht so widerwärtig wäre, müsste ich lachen.«
Christopher war wieder aufgestanden und starrte sie an. »Lach über mich … tu was du willst. Aber sprich nicht davon, mich zu verlassen.«
»Warum sollte ich bei dir bleiben? Wie kann ich jetzt noch bleiben?«
»Um deinem Mann zu helfen«, sagte er. »Dem Vater deiner Kinder.«
Er setzte sich wieder, sagte, dass er sie alle von ganzem Herzen liebe, dass sie ihm alles bedeuteten und dass er sich ein Leben ohne sie nicht vorstellen könne. Als Lizzie angeekelt bemerkte, er benehme sich erbärmlich, gab er zu, dass er wohl genau das sei: lächerlich und schwach.
»Das zuzugeben ist für einen Mann wie mich unglaublich schwer, Lizzie.«
Sie schwieg.
»Ich habe diese Bedürfnisse schon so lange«, fuhr Christopher fort, »dass ich nicht mehr genau weiß, wann es angefangen hat.
Ich habe versucht, damit aufzuhören, aber es gelingt mir nie 73
lange.« Er hielt inne. »Es ist eine Art Sucht.«
»Ist das eine Diagnose?«, fragte Lizzie spöttisch.
»Ja.«
»Also warst du wegen dieser Sache bei einem Arzt?«
»Einmal«, antwortete er. »Vor langer Zeit.«
»Warum nur einmal?«
»Es war zu erniedrigend für mich.«
»Verstehe.«
»Nein, du verstehst nicht«, sagte er. »Wie solltest du auch? All die Jahre voller Scham und Schuldgefühle, in denen ich versucht habe, es zu verstecken, mich davor zu verstecken, damit ich mit dem Rest meines Lebens weitermachen konnte … dem wirklich wichtigen Teil meines Lebens. Wenn das alles zu viel würde, sagte ich mir, würde vielleicht wenigstens unter dem Strich das Gute, das ich tue, meine Schwäche überwiegen.«
»Und das hast du geglaubt?«
»Ja, habe ich«, antwortete er. »Ich glaube, Lizzie, dass ich im Großen und Ganzen, wenn vielleicht auch kein guter, so doch zumindest auch kein schlechter Mensch bin.« Er schwieg kurz.
»Ich glaube, ich bin ein guter Vater … hoffe ich zumindest.«
»Ja«, sagte sie. »Das bist du.«
Später begriff sie, dass sie sich an diesem Punkt des Gesprächs immer noch in einer Art
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