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Blankes Entsetzen

Blankes Entsetzen

Titel: Blankes Entsetzen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hilary Norman
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sie, sei häufiges Hinfallen völlig normal.
    Lizzie verbannte das Thema aus ihren Gedanken, und wenn ihr das auch nicht ganz gelang, stellte sie das Thema doch zumindest weit hintan.
    »Er ist entzückend«, sagte seine Großmutter Angela und hatte Recht: Jack mit seinen schönen grauen Augen, dem goldblonden Haar und seiner fröhlichen Art war hinreißend.
    Auch Edward vergötterte seinen kleinen Bruder, neckte ihn aber häufig, als sie heranwuchsen.
    »Du bist so langsam«, beschwerte er sich, wenn sie zusammen spielten.
    »Er ist noch klein«, erinnerte Christopher ihn. »Du musst Geduld haben.«
    »Hab ich ja«, sagte Edward. »Aber er ist so ungeschickt.«
    »Es können nicht alle von Natur aus solche Athleten sein wie du, Ed.«
    »Was ist ein Athlet, Dad?«
    »Jemand, der Rennen läuft, Hochsprung macht und so weiter.«
    »Jack kann nicht springen«, sagte Edward.
    »Natürlich kann er das«, widersprach Christopher.
    Als dann Sophie zur Welt kam, jubelte der dreijährige Jack über die Aussicht, ebenfalls großer Bruder sein zu können; er 81
    schmuste bei jeder Gelegenheit mit der kleinen Schwester; er liebte es zuzusehen, wenn sie gebadet und umgezogen wurde, und er streichelte hingebungsvoll ihre weichen Wangen.
    Ein zärtlicher Junge.
    Ein fröhlicher, neugieriger, liebevoller Junge.
    »Ich glaube nicht, dass ich je ein so unkompliziertes Kind gesehen habe«, sagte Gilly.
    »Ich weiß«, stimmte Lizzie zu. »Wir haben großes Glück.«
    Doch dann, an einem Februarmorgen drei Monate nach Jacks viertem Geburtstag, änderte sich binnen weniger Stunden alles, und für immer. Christine Connor, die Leiterin von Jacks Kindergarten, fragte Lizzie, die gerade ihren Sohn gebracht hatte, ob sie sie kurz unter vier Augen sprechen könne.
    »Ich mache mir ein bisschen Sorgen um Jack«, sagte sie.
    »Warum?«
    Lizzie stellte die Frage leichthin – wie die Frau, die sie bis zu diesem Augenblick zu sein vorgegeben hatte: die glückliche, sorglose Ehefrau und Mutter von drei Kindern. Aber aus ihrem Innern, aus ihrem jetzt schon verkrampften Körper und ihrem stockenden Herzen war bereits jede Leichtigkeit verschwunden.
    »Ich glaube«, sagte Mrs Connor, »er hat möglicherweise ein Problem.«
    »Was für ein Problem?«
    Hör nicht hin, Lizzie.
    »Erstens«, sagte die andere Frau, »glaube ich, dass er nicht springen kann.«
    »Ja, er ist ein bisschen ungelenk. Eine Sportskanone wird er wohl nie«, sagte Lizzie.
    »Nein, Mrs Wade«, sagte Christine Connor. »Ich will damit sagen, Jack kann nicht springen. Ich habe ihn beobachtet – es ist, als wären seine Füße am Boden festgeklebt, wenn er es 82
    versucht.« Sie hielt inne. »Haben Sie das nicht bemerkt?«
    Nein. Versteck dich weiter.
    »Doch«, sagte Lizzie leise. »Habe ich.«
    »Da ist noch etwas«, fuhr die Pädagogin fort.
    Lizzie fühlte sich (oder glaubte zumindest, sich so zu fühlen) wie ein Gefangener, der auf der Anklagebank saß und darauf wartete, dass der Richter sein Urteil verkündete – mit dem möglichen Ausgang Tod durch Erhängen. Sie wollte Christine Connor sagen, dass sie schweigen solle, kein Wort mehr sagen solle, aufhören solle, Jack zu beobachten, weil er schließlich Lizzies Kind war, nicht ihres, und es ging ihm bestens.
    »Die Art und Weise, wie er aufsteht, wenn er auf dem Boden gesessen hat.«
    Po zuerst, die Hände auf die Beine gestützt.
    »Ja«, sagte Lizzie wieder.
    »Dann haben Sie es also auch bemerkt, Mrs Wade?«
    »Ja.«
    Lizzie wusste, die Frau wartete darauf, dass sie etwas sagte, vielleicht eine Frage stellte oder einen Vorschlag machte, wie eine kompetente Mutter es tun sollte. Aber dazu schien sie in diesem Augenblick nicht fähig zu sein.
    »Natürlich besteht auch die Möglichkeit, dass es nichts ist«, sagte Christine Connor.
    »Aber Sie gehen nicht davon aus«, sagte Lizzie.
    »Ich glaube, Sie sollten mit dem Arzt sprechen.«

    Die Angst, die an diesem Morgen zum ersten Mal an die Oberfläche stieg, war seither nie wieder verschwunden.
    Lizzie war auf direktem Weg nach Hause gefahren, um mit Gilly zu sprechen.
    »Ich hatte gehofft, es mir nur einzubilden«, sagte Gilly.
    83
    »Da bist du nicht die Einzige«, erwiderte Lizzie und rief Christopher an. Der ließ, wie erwartet, alles stehen und liegen, übergab zwei Operationen einem anderen Chirurgen, vertagte eine HANDS-Versammlung, sprang in seinen BMW und fuhr auf der A40 – zu langsam, wegen des Verkehrs – und dann auf der M40 – zu schnell – nach Marlow.
    Als

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