Blankes Entsetzen
was er zunehmend als Quell seiner Probleme sah: den kleinen Kuckuck in seinem Reihenhaus-Nest. Ohne Alkohol fühlte Tony sich reizbar und nicht fähig, mit seinen Geldproblemen und dem unaufhörlichen Kreischen dieses Kuckucks fertig zu werden. Hatte er jedoch ein paar Pints intus, fühlte er sich eher zu Großmut fähig – war dann aber nicht imstande, nach den ersten Bieren aufzuhören, sodass die guten, positiven Empfindungen bald darauf vom Alkohol davongeschwemmt wurden, sodass Tony sich in einem dichten Nebel der Wut wiederfand.
Er schlug das Kind regelmäßig. »War nur ein Klaps«, behauptete er. »Und nicht mal mit ’nem Gürtel, wie mein Vater es bei mir getan hat.«
Ein kaum geringeres Übel, soweit es Irina und ihre Mutter betraf. Wenn Joanne die Schläge hörte oder gar sah, schrumpfte ihr Magen vor Zorn zu einem kleinen harten Ball zusammen, und der Wunsch, auf Tony loszugehen oder wenigstens ihre Gefühle hinauszuschreien, überwältigte sie. Doch sie hatte diesem Wunsch bisher zwei Mal nachgegeben, und beide Male hatte Tony sich an dem Kind gerächt – mit richtigen Schlägen.
»Das ist deine Strafe«, sagte er zu seiner Frau, als Irina vor Schmerzen schrie.
»Du Bastard«, rief Joanne schluchzend.
Er hob die rechte Hand. »Willst du, dass ich ihr noch eins verpasse?«
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»Nein!«, schrie sie. »Wenn du schon jemanden schlagen musst, dann schlag mich!«
Tony ließ die Hand sinken. »Ich will dich nicht schlagen«, sagte er.
Joanne hatte den brennenden Wunsch, ihn anzuzeigen oder es zumindest jemandem zu erzählen, ihrer Mutter oder Nicki von nebenan, doch sie wusste, dass es nicht möglich war. Sie wusste so gut wie Tony, dass sie das niemals tun würde, niemals tun konnte, weil dann die Wahrheit herauskam und man ihr ihr kleines Mädchen wegnehmen würde.
Vielleicht, überlegte sie manchmal, wäre das besser für Irina.
Nein, antwortete sie sich selbst dann jedes Mal. Es wäre nicht besser. Irina liebt dich, weil du ihre Mutter bist.
Nicht ihre richtige Mutter.
Aber richtig genug, widersprach sie der Stimme in ihrem Kopf mit Nachdruck. Richtig genug, um sie zu lieben, sie leidenschaftlich, verzweifelt zu lieben.
Genug für beide Eltern.
Aber es war doch nicht genug. Ein viel zu großer Teil der Entwicklung Irinas im Alter zwischen ein und drei Jahren war von Spannungen, Angst und Schmerz geprägt gewesen. Joanne wusste das und fühlte mit ihr, doch ihre eigene Hilflosigkeit und Überforderung wuchsen, während sie beobachtete, wie Irina auf gewisse Weise zu dem zurückkehrte, was sie gewesen war –
damals, als sie zu ihnen kam.
Kurz nach ihrem zweiten Geburtstag hörte sie auf zu weinen.
»He, Mann«, sagte Tony nach ungefähr drei friedlichen Abenden. »Das ist ja toll.«
»Ja«, sagte Joanne leise.
»Wird auch verdammt noch mal Zeit«, fügte er hinzu.
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Joanne antwortete nicht. Die Stille machte sie krank, weil sie wusste, was dazu geführt hatte. Wie ein Tier, das sich irgendwann der Peitsche unterwirft, hatte Irina, das kämpferische kleine Mädchen von einst, schließlich gelernt, dass es besser war
– und viel weniger schmerzhaft –, nicht zu weinen.
»Sie hat einen guten, starken Charakter«, hatte Dr. Mellor gesagt.
Bei der Erinnerung daran fragte Joanne sich mit einem Schauder, was die Kinderärztin jetzt wohl sagen würde.
Doch der Frieden hielt nicht an. Irinas Introvertiertheit und mangelnde Ansprechbarkeit begannen Tony fast genauso sehr zu ärgern wie ihr Weinen.
»Alles, worum ich gebeten hatte, war ein liebevolles Kind«, sagte er zu Joanne.
»Sie ist ein liebevolles Kind«, sagte Joanne ängstlich.
»Zu dir, nicht zu mir.«
»Vielleicht, wenn du …« Sie verstummte.
»Was?«
»Nichts«, sagte sie leise. »Ich weiß, du gibst dir Mühe.«
»Verdammt richtig, ich gebe mir Mühe«, sagte Tony. »Ich schwitze Blut und Wasser für sie – und was bekomme ich dafür?
Ein undankbares Kind, das mich hasst.«
»Sie hasst dich nicht«, widersprach Joanne. »Du wolltest, dass sie still ist, und den Wunsch erfüllt sie dir jetzt.«
Und Tony ging wie üblich in den Pub.
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13.
acks Neigung zu stolpern war schon im Alter von zwei J Jahren so ausgeprägt gewesen, dass Lizzie Dr. Anna Mellor bei der jährlichen Routineuntersuchung darauf ansprach. Die Kinderärztin – die mit Peter Szell, einem Kardiologen und engen Freund Christophers verheiratet war – beruhigte sie jedoch, nachdem sie den Jungen untersucht hatte. Bei Geh-Anfängern, erklärte
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