Blankes Entsetzen
ebenso wie »Mord« oder »getötet«, eins der Wörter, die sie alle – nach einer stillschweigenden Übereinkunft 303
– in Irinas Beisein mieden.
»Darüber würde ich nicht sprechen wollen«, sagte Tony. »Das ist privat.«
»Fertig«, verkündete Irina.
Sandra half ihr herunter, zog das Geschirrhandtuch vom Halter und schaute ihrer Enkelin beim Händetrocknen zu. »Wenn du nicht willst, tue ich es«, sagte sie in scharfem Ton zu Tony. »Ich tue alles, um den zu kriegen, der uns das hier angetan hat. Ich hätte eigentlich gedacht, dass du es genauso siehst.«
Tony, der noch am Tisch saß, begann zu weinen. Diesmal verbarg er das Gesicht nicht in den Händen; er ließ seine Tränen über die Wangen bis hinunter auf sein stoppliges Kinn fließen.
»Um Gottes willen«, zischte Sandra. »Wenn ich mich beherrschen kann, warum kannst du es nicht?«
»Warum weint Daddy?«, fragte Irina.
»Weil er traurig ist, Schätzchen«, erklärte Sandra ihr behutsam und warf Dean einen hilflosen Blick zu. »Wir alle sind traurig, Irina.«
»Weil Mami nicht hier ist?«, fragte Irina.
»Richtig, Schätzchen«, sagte Sandra, und auch ihre Augen füllten sich mit Tränen.
»Ich will meine Mami«, sagte ihre Enkelin.
Als Karen Dean sah, wie Tränen in den großen dunklen Augen des Kindes schimmerten, konnte sie nur mit Mühe verhindern, dass sie ebenfalls zu weinen anfing.
304
66.
lles in Ordnung bei euch?«, fragte Christopher um kurz A nach zwei am Telefon.
»Bestens«, sagte Lizzie. »Sieht man davon ab, dass ich mich gegenüber den Leuten von Essen und Trinken wie eine Idiotin benommen habe.«
Sie erzählte ihm kurz, was passiert war.
»Du hattest vollkommen Recht«, sagte Christopher. »Dich so unter Druck zu setzen ist unverschämt.«
»Du findest doch nur, ich sollte zu Hause bei den Kindern bleiben«, sagte Lizzie.
»Das ist lächerlich«, entgegnete Christopher.
»Ja«, gab Lizzie zu. »Da hast du wohl Recht.«
»Ich mag ja meine Fehler haben«, sagte er, »aber …«
»Mag?«
»Ich habe meine Fehler«, sagte er. »Unverzeihliche Fehler, wie ich nur zu gut weiß.«
»Ich bin nicht in der Stimmung für deinen Sarkasmus«, sagte Lizzie.
»Und ich bin nicht in der Stimmung, dass man auf mir herumhackt.«
»Dein Pech«, sagte Lizzie und legte auf.
305
67.
obin hat angerufen«, sagte Novak zu Clare, als sie um vier R Uhr, nachdem sie ein paar Stunden in Wood Green bei Nick Parry verbracht hatte, wieder in die Detektei kam. »Jim Keenan, der Inspector aus Theydon Bois, kommt um fünf zu ihm.«
»Will er denn nicht mit dir sprechen?« Sie hängte ihren Regenmantel an die Garderobe.
»Bisher nicht«, sagte Novak.
Er folgte ihr in die winzige Küche, stellte sich hinter sie, als sie den Wasserkocher füllte, und küsste sie in den Nacken.
Normalerweise reagierte Clare auf solche Annäherungen voller Wärme, aber heute stöpselte sie nur den Stecker des Wasserkochers ein.
»Alles in Ordnung?«, fragte Novak.
»Ich bin ein bisschen müde.« Sie nahm den Deckel vom Teebehälter und warf einen Beutel in ihre Tasse. »Hab letzte Nacht nicht gut geschlafen.«
»Es ist verständlich, wenn du aufgebracht bist«, sagte Novak sanft. »Ich weiß, dass du Angst um das kleine Mädchen hast.«
»Du etwa nicht?«, erwiderte Clare so heftig, dass ihr lockiges Haar hüpfte.
»Natürlich.« Novak war verblüfft über den Vorwurf in ihren Augen und legte ihr eine Hand auf den Arm. »Du zitterst ja, Liebling.«
»Tue ich nicht.«
»Komm her und setz dich.«
»Ich koche gerade Tee.«
»Das mache ich gleich.« Er schob sie zurück ins Büro und auf 306
das Sofa zu. »Setz dich und erzähl mir, was los ist.«
Sie setzte sich. »Nichts ist los.«
»Geht es Nick gut?«
»Bestens.«
Novak hörte das Wasser kochen, ging den Tee aufgießen, trug ihn herein und setzte sich neben sie. »Ich habe ein bisschen Zucker hineingetan.«
Zum ersten Mal lächelte sie. »Ich brauche keinen Zucker.«
»Du brauchst Energie«, sagte er. »Du siehst schon seit einiger Zeit müde aus, also weiß ich, dass es nicht nur mit den Patstons zu tun hat. Ich dachte, wir hätten die Abmachung, uns alles zu sagen.«
»Okay«, sagte sie.
»Was okay?«
»Ich sage es dir.«
Ihre Stimme war leise, aber so voller Anspannung, dass er plötzlich Angst bekam.
»Was ist denn?«
»Ich bin schwanger«, sagte Clare.
Novak fühlte sich, als würde er in zwei Hälften gespalten: In einer explodierte ein Freudenfeuerwerk, die andere irrte in
Weitere Kostenlose Bücher