Blankes Entsetzen
ja sicher der Punkt, der Ihnen beiden die meisten Sorgen gemacht hat. Das ist doch die Hauptsache.«
»Ja, das ist wunderbar«, sagte Joanne, zutiefst erleichtert.
Wie aufs Stichwort fing Irina wieder zu weinen an.
»Sie wird doch da rauswachsen, oder, Frau Doktor?«, fragte Tony.
»Natürlich«, antwortete die ältere Frau. »Irgendwann.« Sie stand auf und lächelte Irina noch einmal an. »Offensichtlich haben Sie da ein kleines Mädchen mit einem guten, starken Charakter.«
»Vor allem ist er laut«, sagte Tony.
»Kopf hoch, Mr Patston. Sie werden sich daran gewöhnen.«
Ermutigt durch Dr. Mellors Einschätzung, akzeptierte Joanne Irinas Geschrei als einen Teil ihres Wesens. Darum ging es schließlich bei der Mutterschaft; es war ein wesentlicher Bestandteil dessen, was sie sich so lange ersehnt hatte.
»Ich ertrage das nicht«, sagte Tony, als er zwei Wochen nach ihrem Besuch in der Wimpole Street ins Kinderzimmer kam.
»Sie wird bald damit aufhören.« Joanne saß in dem Fütterstuhl, den ihre Mutter ihnen geschenkt hatte, und schaukelte vor und zurück.
»Ich meine es ernst, Jo. Ich kann diesen verdammten Lärm keine Sekunde länger ertragen.«
Joanne blickte überrascht auf. »Beruhige dich, Tony.«
»Sie treibt mich in den Wahnsinn, Jo.« Er legte sich beide Hände an die Schläfen und lief im Zimmer auf und ab. »Ich habe noch nie so ein Baby gehört. Das ist nicht normal.«
»Natürlich ist sie normal.« Joanne fühlte sich in die Defensive gedrängt. »Du hast so was nur deshalb noch nicht gehört, weil du noch nie mit einem Baby zusammengelebt hast.«
»Allmählich wünsche ich mir, es wäre dabei geblieben«, sagte Tony und stapfte aus dem Zimmer.
Und das war erst der Anfang. Irinas Weinen, behauptete Tony, dringe ihm durch Mark und Bein und ließe beinahe seinen Kopf zerspringen. So begann er im Lauf der nächsten Wochen, das Baby beinahe vollständig seiner Mutter zu überlassen. Wenn Irina nachts schrie, stopfte er sich Watte in die Ohren, zog sich ein Kissen über den Kopf und fuhr Joanne an, sie solle das Kind zum Schweigen bringen. Schrie Irina abends oder am Wochenende, ging er in den Garten oder nach nebenan zu Paul – oder ins Crown and Anchor.
»Du kannst nicht jedes Mal davonlaufen, wenn deine Tochter weint«, beschwerte Joanne sich.
»O doch«, sagte er und tat es auch.
An einem Sonntagmorgen Ende August – Irina war seit vier Monaten bei ihnen – war Joanne gerade ins Bad gegangen, als sie hörte, wie Irina wieder zu weinen anfing.
»Joanne!«, brüllte Tony von unten.
Sie wollte schon aufstehen, überlegte es sich dann aber anders, setzte sich wieder, lehnte sich zurück und schloss die Augen. Er ist ihr Vater, sagte sie sich. Vielleicht war es ein Fehler, immer gleich loszurennen, wenn Irina schrie. Vielleicht sollte sie Tony eine echte Chance geben, sich um seine Tochter zu kümmern.
Irina weinte immer noch.
»Joanne!«
Sie öffnete die Augen. »Ich bin im Bad«, rief sie.
»Verdammte Scheiße!«
Irinas Weinen wurde lauter. Joanne hörte Tonys Schritte auf der Treppe, nahm die Seife und versuchte, sich zu entspannen.
Das Weinen steigerte sich zu schrillem Geschrei.
Joanne legte die Seife hin. »Tony?«
Das Schreien wurde noch lauter, noch hysterischer.
»O Gott.« Joanne sprang so hastig aus der Badewanne, dass das Wasser über die Seiten floss, schnappte sich ein Handtuch, stürmte aus dem Bad und rannte ins Kinderzimmer.
Tony hielt das kleine Mädchen in den Armen.
Und schüttelte es.
»Tony!« Joanne rannte auf ihn zu, ließ das Handtuch fallen und riss ihm Irina weg. Sie sah, dass sein Gesicht rot vor Zorn war. »Was tust du da?« Sie drückte das Baby an sich und spürte, wie verkrampft der kleine Körper war, wie er vor Qual bebte, wie glitschig die winzigen Arme sich an ihrem eigenen nassen Körper anfühlten. »Was hast du dir bloß dabei gedacht, um Himmels willen?«
»Ich wollte sie zum Schweigen bringen«, sagte er. »Das habe ich mir dabei gedacht.«
»Du hast sie geschüttelt! Das ist gefährlich, das weißt du ganz genau!«
»Du bist ja nicht gekommen«, sagte er. »Irgendwas musste ich doch tun.«
Und es wurde noch schlimmer. Je ungeduldiger Tony mit Irina wurde, desto mehr schrie sie, sobald er auch nur in ihre Nähe kam. Wütend ignorierte er sie von jetzt an entweder vollständig oder hob sie auf geradezu herausfordernde Weise hoch, sodass er ihr Leid nur verschlimmerte. Aus Enttäuschung und Verärgerung wurde bitterer
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