Blankes Entsetzen
sich den größten Teil des Tages draußen in Bent Cross aufgehalten.
Helen seufzte und starrte wohl zum hundertsten Mal auf die Schreibtafel, auf der partout kein anderer Verdächtiger erscheinen wollte. Keine Liebhaber – weder von John noch von Lynne – waren aufgetaucht. Niemand, der irgendeinen Groll gegen Lynne hegte. Keine Kabbeleien mit anderen Eltern an der Schule der Kinder, kein Hinweis darauf, dass sie sich verfolgt gefühlt hatte, keine Einbrüche in ihr Haus. Es gab nicht einmal einen Zeugen, der am fraglichen Tag einen Streit zwischen Mann und Frau gehört hätte.
Andererseits: Selbst wenn die Nachbarn sie schreien gehört hätten, wäre auch das noch längst kein Beweis, dass John Bolsover seine Frau getötet hatte.
Lynnes Gesicht lächelte Helen von einem Foto an.
Daneben ein anderes Gesicht, eine schreckliche, blutige Maske des Todes.
Lynne Frances Bolsover. Neunundzwanzig Jahre alt. Mutter zweier kleiner Kinder.
Ausgelöscht von einem oder mehreren Unbekannten.
»Wir wissen aber, dass er es war, oder?«, fragte Constable King.
»Wir wissen einen Dreck, Ally«, sagte Helen.
Sergeant Gregory, ein übergewichtiger Mann mittleren Alters, stand auf. »Dann sollten wir uns wieder auf die Socken machen und etwas auftreiben, mit dem wir den Bastard festnageln können.«
»Je eher, desto besser«, sagte Helen.
8.
Im ersten Monat, nachdem ihre Eltern sie nach Hause geholt hatten, lächelte Irina sehr oft und weinte fast nie. Dann aber – als hätte sie ihre Macht, etwas vom Leben zu fordern, vorher nicht begriffen – begann das kleine Mädchen nicht bloß zu weinen, sondern mit durchdringender Stimme zu schreien, wann immer sie Milch oder eine saubere Windel, auf den Arm genommen oder wieder hingelegt werden wollte.
»Kannst du nicht dafür sorgen, dass sie das sein lässt?«, fragte Tony seine Frau.
»Natürlich nicht«, erwiderte Joanne abwesend. »Wenn ich es könnte, würde sie ja nicht mehr weinen, oder?« Sie musterte Irinas leuchtend rote Wangen. »Ich mache mir allmählich Sorgen um sie, Tony. Wir müssen mit ihr zum Arzt.«
»Ich dachte, damit wollten wir noch warten.«
Sie waren übereingekommen, dass sie – mit Ausnahme der normalen Kontrolluntersuchungen und Impfungen bei ihrem Hausarzt – lieber zu einem privaten Kinderarzt gehen wollten, als zu riskieren, den staatlichen Gesundheitsdienst in Anspruch zu nehmen. Eine oder zwei Rechnungen mehr, hatte Tony damals unbekümmert erklärt, würden angesichts der Summen, die er bereits beschafft hatte, auch keinen großen Unterschied mehr machen.
Doch jetzt, wo es so weit war, schien er nicht mehr ganz so überzeugt zu sein.
»Wir müssen ja nicht gleich überreagieren, Joanne.«
»Wir wollen aber auch kein Risiko eingehen, oder?«
»Du hast gesagt, sie hat keine erhöhte Temperatur.«
»Ihre Haut ist sehr warm.«
»Du wärst auch warm, wenn du so brüllen würdest.«
»Sie brüllt nicht nur«, sagte Joanne. »Irgendetwas stört sie.«
»Vielleicht du?«
»Ich?«
Tony blickte in die ängstlichen Augen seiner Frau.
»Also gut«, sagte er. »Okay.«
»Zu einem Privatarzt?« Joanne sah ihn erwartungsvoll an.
»Ja. Aber nur dieses eine Mal, in Ordnung?«
»Natürlich.« In diesem Moment, als das schreckliche Weinen ihres Babys in ihrem Kopf widerhallte und sie spürte, wie der kleine warme Körper in ihren Armen sich mit jedem Schrei mehr versteifte, hätte sie sich mit allem einverstanden erklärt. Außerdem wusste sie, dass Tony es nicht so meinte – wenn Irina jemals wieder einen Kinderarzt brauchte, würde es ihm nichts ausmachen. Nicht wenn die Gesundheit ihrer Tochter auf dem Spiel stand.
Mit der Gesundheit ihrer Tochter war laut Dr. Anna Mellor in der Wimpole Street alles in bester Ordnung.
»Sie ist ein süßes kleines Mädchen«, sagte die Ärztin nach einer gründlichen Untersuchung, bei der Irina ihr Talent zum Schreien fast ununterbrochen unter Beweis gestellt hatte. »Allerdings ein ziemlich lautes Kind, da gebe ich Ihnen Recht.« Sie strahlte Joanne und Tony an. »Aber das ist ganz einfach ihre Art.«
»Sie meinen, das geht jetzt immer so weiter?«, fragte Tony.
Anna Mellor zwinkerte Joanne zu. »Ein kleiner Systemschock für den Vater.«
»Es ist nur, weil sie bis vor ein paar Wochen so still war«, sagte Joanne.
»Vielleicht hatte sie ihre Stimme noch nicht entdeckt«, sagte die Ärztin. »Auf jeden Fall«, fuhr sie fort, »gibt es keinen Hinweis auf eine ernste gesundheitliche Ursache, und das ist
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