Blankes Entsetzen
noch zeigen, ob Sophie ebenfalls den genetischen Defekt aufwies, der für die Krankheit des zehnjährigen Jack verantwortlich war.
Dennoch, Lizzie war dankbar für ihr Leben.
Und für ihre Arbeit.
»Welchen Stellenwert«, hatte ein Journalist, der sie für eine Samstagsbeilage interviewte, sie vor einem Jahr gefragt, »räumen Sie Ihrer Karriere in Ihrem Leben ein?«
»Ich freue mich darüber«, hatte Lizzie geantwortet. »Ich habe das Glück, kochen, essen und trinken zu dürfen, darüber zu schreiben und noch dafür bezahlt zu werden.«
Doch die Antwort, die in ihren Gedanken ganz oben stand – die ehrlichste Antwort –, hatte sie dem Journalisten nicht gegeben.
Meine Arbeit bewahrt mich davor, den Verstand zu verlieren.
Der Journalist wusste von Jacks Krankheit und hätte wahrscheinlich angenommen, dass Lizzie sich darauf bezog. Doch sie sprach die Wahrheit nicht aus – weder dem Journalisten noch irgendeinem anderen Menschen gegenüber. Sie sagte es nicht einmal ihrer Mutter, Angela Piper, und auch nicht Gilly Spence, die ihr bei der Hausarbeit half (weshalb Gilly der Liste der Glücksfälle in ihrem Leben hinzuzufügen war).
Meine Arbeit bewahrt mich davor, den Verstand zu verlieren.
Niemand hätte wirklich verstanden, was sie meinte. Alle hätten gedacht, falls Lizzies emotionale Stärke hier und da ein wenig ins Schwanken geriete, müsse es wegen Jack sein – und wegen der ständigen Herausforderung, ihre Prioritäten ins Gleichgewicht zu bringen. Doch selbst unter Berücksichtigung ihrer Probleme wären viele Menschen der Meinung, dass Lizzie es trotzdem leichter hatte als die meisten anderen.
Weil ihre ganze Familie, ihre Freunde und Kollegen und jeder, der in Frauenzeitschriften oder in der Boulevardpresse über sie gelesen hatte, sich einig waren, was den wichtigsten Aspekt in Lizzies Lebens betraf: Ihr größtes Glück bestand darin, Christopher zum Ehemann zu haben.
Vor allem, dachten manche insgeheim, weil die Blondine mit den blauen Augen zwar recht hübsch, aber keinesfalls eine Schönheit war.
Dafür aber war sie mit Christopher Edward Julian Wade verheiratet, dem berühmten und attraktiven Schönheitschirurgen, der seine Fähigkeiten regelmäßig in die Dienste bedürftiger Menschen in verschiedenen Ländern Europas und der Dritten Welt stellte und darüber hinaus Gründer und Rückgrat von HANDS war, einer karitativen Organisation, die sich der ärztlichen und psychologischen Hilfe für entstellte Männer, Frauen und Kinder widmete.
Diverse Boulevardzeitungen titulierten Wade regelmäßig als »heiligen Christophorus«.
Das Familienleben der Wades war zwischen einer großen, frühviktorianischen Villa an der Themse, unweit von Marlow in Buckinghamshire, sowie einer Gartenwohnung im Londoner Holland Park aufgeteilt; sie hatten beide Domizile vor einigen Jahren praktisch komplett ausweiden und neu bauen lassen, um Jacks krankheitsbedingten Bedürfnissen gerecht zu werden – Rampen, ein Treppenlift, verbreiterte Türen, umgestaltete Badezimmer. Diese Bedürfnisse wuchsen im Laufe der Zeit, da seine Kraft und seine Fähigkeiten allmählich nachließen. Beide Wohnungen waren überdies mit Arbeitsküchen für Lizzie und Büros für Christopher und sie ausgestattet.
Das Glück des Wohlstands war Lizzie also ebenfalls vergönnt.
Sie hatte vor langer Zeit den Überblick verloren, wie viele Fans ihr schon geschrieben hatten, um ihr zu sagen, wie sehr sie sie beneideten – nicht so sehr wegen ihrer Bestseller und der regelmäßigen Fernsehauftritte auf dem Koch-Sendeplatz von Heute Morgen oder im Essen-und-Trinken -Kanal, sondern vor allem wegen ihres Lebens mit dem fabelhaften Christopher.
Weil niemand die Wahrheit über Christopher kannte.
Alle Welt wusste nur, was Lizzie sie wissen lassen wollte. Es wäre niemandem geholfen, wenn mehr bekannt würde. Ganz gleich, was geschah, sie wollte nicht – und konnte nicht – daran denken, Christopher zu verlassen. Wegen ihrer Kinder. Wegen Jack. Weil ihr Mann, trotz all seiner Fehler, der liebevollste Vater war, den man sich vorstellen konnte.
Und weil Jack seinen Vater vergötterte.
Also würde Lizzie es niemandem erzählen, zumindest nicht, solange Jack lebte. Obwohl sie die Statistiken kannte und wusste, dass ihr Sohn – trotz aller Hoffnungen auf Gen- und sonstige Therapien der Zukunft – von Glück reden konnte, wenn er die Teenagerjahre oder frühen Zwanziger noch erlebte, dachte sie selten über seinen Tod nach. Sie würde ihrer
Weitere Kostenlose Bücher