Blanks Zufall: Roman
das er gelernt hat. Unwillkürlich erinnert er Erving Goffmans Theorie, die er in Ausschnitten ebenfalls mit Anna in einem Referat vorstellte.
In seinem ersten Buch „Wir alle spielen Theater“ seziert Goffman die Gesellschaft als das Produkt von vielen Individuen, die sich gegenseitig Rollen vorspielen (müssen) und darauf bedacht sind, dass ihre Fassaden nicht durchschaut oder gar demontiert werden (sonst würde Gesellschaft gar nicht funktionieren, als ein stabiles, alltägliches Konstrukt). Aber anders als im echten Leben, hat sich Marcus die Rolle, die er jetzt spielt, freiwillig ausgesucht. Während in einem Beruf oder in der Familie und Partnerschaft mit jeder Rolle unzählige, fremde Erwartungen verbunden sind, ist die einzige Erwartung, die Marcus heute erfüllen muss, dass das Publikum gut unterhalten wird. Auf welche Weise er das tut, obliegt ihm allein. Und er wählt seit jeher eine Rolle, die ihm nur auf der Bühne passt.
„Okay, Leute“, hebt Marcus seine Stimme an, „wie ich annehme, hat jeder von euch jetzt was zu trinken.“ Die meisten Gespräche verstummen und viele schauen nun zu ihm, wenden sich mit ihren Körpern in seine Richtung. „Dann könnt ihr endlich ruhig sein und mir zuhören, denn darum seid ihr heute doch hier, oder nicht?“ Einige lachen, andere nicht, alle sind dann ruhig. In der zweiten Reihe, hinter Karsten, steht eine Frau, die Marcus strafend anblickt. Wie kann er nur so frech sein, denkt sie wohl.
„Dann wollen wir mal“, sagt Marcus und hebt sich von der Wand ab. Plötzlich fühlt er sich nackt, kurz nur, als er seinen Schutz der gelassenen Position aufgibt. Dann fühlt er sich sicher, unverlernt schlüpft er in seine Rolle. Marcus überragt die meisten Anwesenden und einige müssen gar zu ihm hinauf blicken. Er stellt sein Wasserglas auf das DJ-Pult neben ihm und zeigt auf die Frau, die ihn noch immer böse anblickt.
„Ich werde euch heute belügen, wo ich nur kann. Ihr werdet glauben, dass ich eure Gedanken lese, aber das ist nur Teil meiner Show. Es heißt ja, glaubt nicht alles, was man euch erzählt, aber jetzt sage ich euch die Wahrheit, Leute, ich werde lügen.“ Dann lächelt er, auch weil er bemerkt, dass die meisten im Publikum lächeln und nicht nur die, die ihn kennen. „Du!“ sagt er dann und schaut zur Frau, „ja, du! Ich darf doch duzen, oder sind wir heute förmlich?“
Ihre Gesichtszüge entspannen sich und sie sieht jünger aus, als sich die Falten legen.
„Nein, du kannst mich duzen“, sagt sie bestimmt, aber ihr Unterton verrät ihre Unsicherheit. Sie lächelt nun.
„Ich brauche einen Freiwilligen“, sagt Marcus, „am besten eine Frau, das klappt immer besser mit einer Frau, ihr seid so viel empfänglicher als wir emotionalen Krüppel.“
„Okay“, sagt die Frau, „soll ich nach vorne kommen?“
„Darum bitte ich“, erwidert Marcus und fordert sie mit einer Geste zu sich. Karsten merkt zu spät, dass sie an ihm vorbei will und die Frau rempelt ihn an seiner Schulter an. „Oh“, sagt er und weicht aus. So verplant, denkt Marcus, wie viel hat er heute schon gekifft? Wenigstens trägt er nicht seinen Bademantel (was er schon mehrmals tat, wenn er ausging, weil er sich wie 'der Dude' fühlte, sagte Karsten dazu, nur das viele gar nicht wissen, wer 'der Dude' ist).
Die Frau faltet ihre Hände vor sich zusammen, während sie ihre Arme durchdrückt. Das verrät, wie unsicher sie ist und Marcus greift ihr mit der linken Hand an die Schulter.
„Du brauchst nicht nervös sein. Ich werde ganz brav dein Gehirn durcheinander bringen.“ Gelächter.
„Ich bin nicht nervös“, sagt sie.
Marcus schaut ins Publikum, blickt von einem Gesicht zum anderen, während er spricht, an Karsten vorbei zu Tim und Maurice, zu Frank, zu Sebastian und Jana, die mit ihm bei MarketAnalyzer arbeiten, zu Stammgästen, die er des Öfteren gesehen hat, zu Fremden. Er nimmt sich Zeit in ihren Augen zu lesen, ob sie ihm glauben, ob sie ihm gerne zuhören.
„Es heißt ja, ein Mentalist kann Gedanken lesen“, beginnt Marcus, „und ich möchte da nicht anders sein. Ich werde nun etwas tun, was man schon als klassisch bezeichnen kann. Jeder Mentalist, ob auf der Straße oder auf der Bühne, schnappt sich einen Zuschauer, den er nicht kennt. Und das müssen wir mal kurz feststellen. Wir kennen uns nicht, richtig?“
„Ja“, sagt die Frau, steht noch genauso da wie eben, ihre Schultern sind angespannt, ein unangenehmes Gefühl unter seiner
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