Blanks Zufall: Roman
Und das bringe ich mit. Wir wollen ja nichts dem Zufall überlassen.“
Jenny lacht wieder, Marcus ebenfalls.
„Wie läuft's eigentlich mit Anna?“, fragt Jenny. Sie versucht anscheinend, es beiläufig klingen zu lassen, aber Marcus weiß, da ist mehr.
„Es ist aus“, erwidert er.
„Oh“, sagt Jenny nur, aber in diesem Laut steckt noch mehr. „Oh“, weil es ihr leid tut, dass Schluss ist. „Oh“ aber auch, weil Marcus wieder frei ist. Für den Moment. „Dann kommt sie heute Abend nicht?“ Freut sie sich etwa, denkt Marcus. Ihre Frage klingt nach jenem Erwartungsvollen.
„Ich habe sie nicht ausgeladen, Jenny.“
„Ach so.“
Zwischen Jenny und ihm herrscht ein geheimes Übereinkommen. Keiner der beiden wird jemals ein Wort über ihre gemeinsame Woche verlieren, vor zwei Jahren, als Marcus die Grone-Schule besuchte und Karsten in London war, um Henning zu besuchen (eine mit Drogengeld bezahlte Reise). Marcus war Single zu der Zeit, Katharina hatte Schluss gemacht und war nach Frankreich gezogen, Jenny war unglücklich in ihrer Beziehung zum Dealer, der zusehends verwahrloste, je mehr Drogen er selber nahm und je öfter er den Bademantel seines Vaters trug.
Die beiden hatten auch das Übereinkommen, ihre Woche vor sich selbst nicht mehr zu erwähnen. Sie sollte eine warme, intime Erinnerung bleiben an einen Weg, der nie gegangen wurde. Die zweite Möglichkeit, wie sich Dinge entwickeln könnten, die nur in einem parallelen Universum ihren Platz findet und darum für beide niemals zugänglich sein wird.
Karsten war erst ein Tag in London, als Jenny ihm eine Email schrieb, in der sie all das Leid klagte, was er schon vorher wusste. Nur diesmal war es endgültig. „Deine Abwesenheit ist, was ich brauchte, um zu bemerken, wie wenig ich dich vermisse“, schrieb sie am Schluss. Von Karsten kam keine Reaktion, bis er wieder in Hamburg war, und auch dann bestand seine Reaktion hauptsächlich aus Ignorieren.
Jenny zeigte Marcus die Email am Tag, nachdem sie sie abegschickt hatte, und sie verbrachten die folgende Nacht miteinander, die erste von insgesamt sechs Nächten in Folge, in denen sie wenig Schlaf fanden. Keiner von beiden weiß mehr, wer den Anfang machte, die erste Berührung, der erste Kuss, das Ausziehen. In Marcus' Erinnerung gab es nur den Moment, den sie zusammen erlebten, und beide ergriffen darin gleichzeitig Initiative. Ein gemeinsames Einverständnis.
Auch wenn es so klingt, als hätten sie Karsten hintergangen (Jenny als seine Freundin, Marcus als langjähriger Freund), war ihre kurze Affäre nicht mehr als eine natürliche Folge von Umständen gewesen, in der ihnen ein gemeinsamer Moment zeigte, was all die vorher gehenden Aufeinandertreffen, immer mit anderen, bedeuteten.
Zwischen Jenny und Marcus war stets ein Etwas gewesen (ist es heute noch), was andere wohl als gegenseitige Anziehung bezeichnen würden. Auch bei ihrem ersten Treffen, als Karsten sie als seine Freundin vorstellte, und Marcus mit Katharina erschien, spürten beide dieses Etwas , das nur im Französischen einen Ausdruck findet, und das allen Menschen geschehen kann, unabhängig von Alter, Familienstand oder Nationalität.
„Je ne sais quoi“, sagte Jenny einen Abend in ihrer Bar, sie kannten sich fast ein Jahr, sahen sich regelmäßig, weil sie zu viert öfters unterwegs waren, oder in Jennys Bar zusammen tranken. Karsten war auf Toilette, Katharina war an diesem Abend bei einer Freundin und wollte später hinzu kommen. Es war dieser eine, lange Moment, als sie sich in die Augen blickten und grinsen mussten, dann wie auf ein Stichwort gleichzeitig eingeschüchtert woanders hinschauten.
„Ja“, stimmte Marcus dann zu, „belassen wir es dabei, es nicht zu wissen.“
„Abgemacht“, lachte Jenny ihr Lachen. Das war der Moment, als Marcus zum ersten Mal das Verlangen spürte sie zu küssen (und er wird sie heute Abend wieder küssen, auf den Mund, zur Begrüßung, diesmal sehr kurz, fast beiläufig, und ihre Lippen und die seinen werden sich nur für eine Sekunde an ihr Geheimnis erinnern).
Heute ist Jenny so etwas wie eine Schwester für Marcus, eine Vertraute, die ihn akzeptiert, wie er ist, bedingungslos, weil er einfach zu ihr gehört, wie sie zu ihm (auch wenn sie beide nicht wissen, warum sie so fühlen, aber so ist das manchmal). Und sie ist die Einzige, die alles über seine Beziehung zu Anna weiß. Alles, das die Verletzungen und Lügen mit einschließt. Jenny weiß auch von Marcus' Taubheit,
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