Blanks Zufall: Roman
Handfläche.
„Dann werde ich jetzt deinen Namen lesen, okay? Du brauchst einfach nur an ihn zu denken, sende mir deinen Vornamen, stelle dir jeden Buchstaben deines Namens groß und leuchtend vor und sende ihn mir.“
Marcus schaut ihr in die Augen, eigentlich schaut er ihr auf den Mund, aber das merkt niemand.
„Also, du musst dich schon anstrengen, Daniela, momentan lese ich nur das große A, zwei Mal.“
Das Publikum lacht, eine Masse, die auf Marcus schaut. Alle sind sie nun gleich, Freunde und Fremde, die eine Show erleben möchten.
„Liegt das vielleicht daran, dass du in der Bank alles vor dir auf dem Bildschirm hast und dir keine Buchstaben mehr erdenken musst?“
Daniela ist ruhig.
„Arbeitest du in einer Bank?“, fragt Karsten unbedarft, seine Stimme klingt so kindlich, seine Augen sind gerötet.
„Ja“, antwortet sie. Marcus lächelt.
„Klar tut sie das. Sie hat es mir soeben verraten, auch dass sie heute mit einer Kollegin da ist, keine Freundin von dir, noch nicht, würde ich sagen, aber ihr habt euch heute verabredet, weil ihr euch besser kennenlernen wollt. Du bist auch erst vor kurzem hierher gezogen, aus Brandenburg?“
Danielas Augen weiten sich. Marcus liebt diesen erstaunten Ausdruck, in dem auch stets die Furcht lauert, die Furcht, dass er wirklich Gedanken liest.
„Woher, zum Teufel, weißt du das?“
„Er liest Gedanken“, ruft Karsten.
„Halt die Klappe und komm' her“, erwidert Marcus. Wieder Gelächter aus dem Publikum, vereinzelt. Karsten lächelt unsicher und tritt hervor.
„Was soll ich machen, oh großer Blank?“
„Nicht so klugscheißen und mir helfen. Denk dir mal eine Zahl aus, nimm nicht deine Lieblingszahl, sondern eine, die dir sponton einfällt. Okay, hast du eine, dann nicht die, nimm die nächste. Okay?“
„Ja.“ Es folgt ein Moment des Schweigens, ein Standoff, in dem Marcus das Publikum ganz für sich gewinnen will und wird, wenn er die Zahl richtig rät. Sein erfolgreicher Beginn machte sie empfänglich, mit dieser Nummer wird er sie nun in seinen Bann ziehen. Das ist der Moment, in dem sie glauben werden, er liest Gedanken, denn ohne weitere Worte, nur mit unbemerkten Blicken auf Karstens minimale Bewegungen der Lippen und der Augen, sagt Marcus:
„Du denkst an eine dreistellige Zahl, richtig? Und sie ist ungerade, sie ist nahe an der Zweihundert, aber nicht so nahe. Die Zahl besteht aus drei verschiedenen Ziffern.“
Karsten nickt mit seinem Kopf, nickt eifrig wie ein Papagei.
„Du denkst an die Einhundertvierundsiebzig“, sagt Marcus.
Karsten beugt sich nach vorne, als würde er sich vor Lachen biegen, dann richtet er sich wieder auf und pfeift.
„Wie du das machst, Alter.“
Marcus lässt sich nicht irritieren, Karstens Gesten sind oft irritierend, und bittet ihn, sich eine weitere Zahl auszudenken.
„Gut“, mit diesem Wort wendet sich Marcus wieder an Daniela. „Und jetzt wirst du diese Zahl aus Karstens Kopf lesen, ja? Meine Fähigkeiten kann ich nämlich auch übertragen. Während ich dir kurz ins Ohr flüstere, wie du das am besten machst, schreibt Karsten die Zahl auf, warte, hier ist Papier und ein Stift, und dann gibt er den Zettel an Frank weiter. Alles klar?“
Nach diesem ersten Akt folgt der erste Applaus (Daniela erriet neben der Zahl, 24, noch Karstens Geburtstag und den Namen seiner Mutter). Wie macht er das?, ist die meist gestellte Frage, die aber nicht an Marcus direkt gerichtet wird. Sie flüstern und tuscheln im Publikum. Diese Reaktionen hat er sich gewünscht. Es ist vollbracht.
Der erste Akt lockerte ihn, Marcus fühlt sich in seinem Element. Es ist wie Schwimmen und Fahrradfahren, man verlernt es nicht.
Während des Aktes waren Anna und Kerstin aufgestanden (wahrscheinlich weil Kerstin es wollte) und gesellten sich zu den anderen, um besser zu sehen. Jenny setzte sich auf den Tresen und blickt die Zeit über zu Marcus. Manchmal erwidert er ihren Blick. Stolz liest er in ihren Augen, wie eine große Schwester stolz auf ihren kleinen Bruder sein kann, wenn er erfolgreich ist, und Marcus fühlt sich seltsam gerührt, dass er ihrem Blick nie lange stand hält.
Mit jedem Atemzug, jedem Moment auf der provisorischen Bühne verbreitet sich in Marcus das Lebendige, das echte Fühlen. Taubheit fühlt er nicht mehr.
Seine Show heute Abend besteht aus fünf Akten, aber anders als bei einem Theaterstück bildet nicht der dritte, sondern der letzte den Höhepunkt.
Nachdem er Daniela zurück ins Publikum
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