Blanks Zufall: Roman
werden.
Marcus blickt zum Himmel hinauf, dessen Tiefe als Oberfläche erscheint, klar und dunkelblau erleuchtet. Inmitten dieser Weite scheint ein voller Mond, ein blasser Kreis voll dunklen, nebligen Flächen, der sich plastisch vom Hintergrund abhebt, fast atmet wie ein lebendiges Wesen. Unwillkürlich lächelt Marcus bei seinem Anblick, und mit diesem Lächeln auf den Lippen kehrt er in Jennys Bar zurück, um die finalen Akte zu zelebrieren, unaufhaltsam dem Höhepunkt entgegen.
Es ist Zeit für Marcus' Hommage an Annemann, einen Mentalisten, der Marcus fast genauso fasziniert wie Damon Black. Nur fast, weil Theodore Annemann schon seit Jahrzehnten tot ist, 1942 im Alter von nur 35 Jahren gestorben, (und Marcus ihn deswegen niemals auf der Bühne sehen wird) und weil er sich auf eine bestimmte Art des Mentalismus spezialisierte (anders als Damon Black, der stets alle benötigten Techniken fusioniert für einen Effekt). Diese Hommage wird nicht nur den vierten Akt dominieren, sondern auch dem fünften zu seinem Höhepunkt verhelfen. Fünf, die beste Zahl.
Annemanns größter Triumph war zu wissen, was andere Menschen niederschrieben, und diesen Bluff will Marcus heute im 'Raschinskis' ausspielen. Das ist so neu wie die Hypnose eines Nüchternen, aber für seinen Neuanfang, nichts anderes ist der Auftritt heute Abend, möchte Marcus zu den Wurzeln seines Hobbys zurück kehren. Als Vorlage dient ihm Annemanns „Practical Mental Magic“, ein posthum erschienenes Buch (1983), das von anderen der Zunft die wichtigsten Tricks des Verstorbenen zusammen fügte. Eines der wenigen Bücher dieser Art, die legal über den Buchhandel bezogen werden können und nicht nur der Elite der eingetragenen Zauberer zur Verfügung stehen. Es gibt keine deutsche Übersetzung, aber es bildet die Grundlage für jeden, der ernsthaft Mentalist werden möchte. So ernsthaft wie Marcus glaubt, es zu wollen.
„Meine Damen und Herren“, ruft er, als er die Bar betritt und sich vergewissert, dass alle in Hörweite sind. Jenny verzichtete darauf, in der Pause Musik zu spielen, was sicherlich den Gesprächen unter dem Publikum zu Gute kam. Marcus fragt sich, wie viele von ihnen nicht nur fragen, wie er das macht, sondern auch Theorien darüber entwickeln. Ob ihn jemand lächerlich findet? Diese Frage verteibt Marcus, sobald sie in ihm aufkeimt.
Er sieht ihre Gesichter und weiß, sie können es kaum erwarten, dass es weiter geht. Was kommt jetzt?, wollen sie wissen und Marcus will ihren Wissensdurst gerne befriedigen. „Bitte versammelt euch so wie eben, ja, um mich, weil ich so gerne im Mittelpunkt stehe. Aber streitet euch nicht, wer mir ganz nahe sein darf und wer nicht. Hauptsache ist doch, ihr könnt mich alle gut sehen.“
Die Gespräche sind restlos verstummt. Wieder stehen sie vor ihm, in erster, zweiter, dritter Reihe, Getränke in den Händen, Lächeln auf den Lippen.
„Wir Mentalisten können nicht nur Gedanken lesen, wir wissen auch, was zukünftig geschehen wird. Ich werde jetzt drei Worte nur auf dieses kleine Blatt Papier schreiben, Worte, die gleich jemand denken wird ohne zu wissen, dass er es wird. So, nun brauche ich jemanden, dem ich vertrauen kann, nicht du, Karsten, eine Frau, mal wieder, Anna, wie wär's mit dir?“
Sie nickt schüchtern, was nicht zu ihr passt. Es überrascht Marcus nicht, dass er Anna in seinen nächsten Trick involviert. Eine absolut natürliche Wahl für seinen Helfer, als gäbe es gar niemanden anderen, der nun zu ihm kommen soll und seinen gefalteten Zettel in der Hand halten wird. Anna ist die eine, denkt er. Zu Beginn ihrer Beziehung zauberte er oft für sie, wenn sie am nächsten Morgen in seinem Bett erwachten oder wenn sie an der Binnenalster gegenüber vom Jungfernstieg saßen. Zu der Zeit trug er noch jeden Tag ein Kartendeck mit sich.
Wann ließ er es eigentlich bleiben, fragt er sich, vielleicht nach dem Gespräch mit Kerstin über Annas Lügen, vielleicht schon davor, aber zwei Ereignisse scheinen manchmal so sehr miteinander verbunden, dass sie nicht mehr zu trennen sind. Mit dem Aufdecken von Annas Lügen verschwand das Kartendeck aus seiner Tasche, da ist er sich sicher. Und jetzt steht sie auf seiner Bühne.
Unausweichlich, kein Zufall (natürlich nicht, er hat sie ja gefragt, aber der Wille sie zu fragen, woher kam der?)
„Danke, Anna. Jetzt bitte ich dich, die Hand mit dem Zettel in die Höhe zu halten, damit ihn alle sehen und auch sicher sein können, dass ich ihn
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